Wir erinnern uns: Grenzen sind Produkte einer sich entwickelnden Nationalstaatlichkeit im 18./19. Jahrhundert und des Kolonialismus. „Grenzen sind soziale Konstrukte“, machte Sarah Frenking mit Blick auf die durch die Ampel-Regierung (also Dobrindts/Merz‘ Vorgänger*innen) ausgeweiteten Grenzkontrollen im Oktober 2024 in der taz deutlich; deshalb mussten die Linien erst hergestellt und Menschen als national unterschiedlich markiert werden: „Als 1888 an der deutsch-französischen Grenze aufgrund außenpolitischer Spannungen eine Passkontrolle eingeführt wurde, folgten aufgebrachte Reaktionen. Die Grenzpolizei prüfte die Staatsangehörigkeit von Reisenden, die diese jedoch oft nicht einmal selbst kannten.“1Sarah Frenking: Historie der deutschen Grenze: Grenzen sind so 19. Jahrhundert, die tageszeitung, 04.10.2024, https://taz.de/Historie-der-deutschen-Grenze/!6036958/.
Im Staatsinneren waren Bürger, die die öffentliche Entscheidungssphäre besetzten, männlich, oft mit einigem Vermögen, und weiblichen oder feminisierten Personen wurde die angezeigte Rationalität qua Biologie abgesprochen. Gleichzeitig waren die neuen Zugehörigkeiten familiaristisch angelegt; Frauen* wurden in Nationsdiskursen als Reproduzentinnen* einer nationalen Familie imaginiert.

Die Grenze (re-)produziert solche Zuschreibungen und Hierarchisierungen.
Grenzkontrollen haben, trotz der Feiern zum 40. Jahrestag des Schengener Übereinkommens2DW (wa/fab (epd, dpa)): 40 Jahre „Schengen“: Abkommen „teilweise mit Füßen getreten“, Deutsche Welle, 14.06.2025, https://www.dw.com/de/40-jahre-schengen-abkommen-teilweise-mit-füßen-getreten/a-72910242., das die Öffnung der europäischen Binnengrenzen einleitete, gerade wieder Konjunktur. Die von Bundesinnenminister Dobrindt bei den Kontrollen angeordnete Zurückweisung Schutzsuchender – die europäisches Recht bricht, was von vornherein bekannt war3Unter anderem: Constantin Hruschka: Dobrindts Rechtsbruch. Warum die aktuellen Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind, Verfassungsblog, 15.05.2025, https://verfassungsblog.de/zuruckweisung-grenze-kontrolle-dobrindt/; Daniel Heymann/Jan Henrich: Zurückweisungen: Ist Merz ungenau?, ZDFheute, 10.02.2025, https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/tv-duell-merz-asylrecht-zurueckweisungen-100.html. – wurde zwar gerichtlich inzwischen für rechtswidrig erklärt. Aber nach den Entscheidungen4Hier sind die Entscheidungen: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001609913; https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001609914; https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001609915. des Verwaltungsgerichts Berlin, dass drei jungen somalischen Asylsuchenden Recht gegeben hatte, zeigte sich Minister Dobrindt trotzig: „Wir halten an den Zurückweisungen fest.“5 Stefanie Witte/Jost Müller-Neuhof: „Wir halten an den Zurückweisungen fest“: Dobrindt will trotz Gerichtsentscheidung harten Migrationskurs fortsetzen, Tagesspiegel, 02.06.2025, https://www.tagesspiegel.de/politik/gericht-erklart-zuruckweisungen-fur-rechtswidrig-was-die-entscheidung-fur-merz-harten-migrationskurs-bedeutet-13791757.html.
Doch das Verwaltungsgerichtsurteil war offensichtlich nicht – wie die Merz-Regierung jetzt gern behauptet – auf drei Einzelfälle bezogen, sondern „die zuständige Einzelrichterin hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Entscheidung der gesamten Kammer übertragen“6Maximilian Pichl: Zurückweisungen vor Gericht, Verfassungsblog, 03.06.2025, https://verfassungsblog.de/zuruckweisungen-gericht-migration-asyl/; auch zur grundsätzlichen Bedeutung: Heinrich Wefing (Interview mit der Präsidentin des Verwaltungsgerichts Berlin Erna Viktoria Xalter): „Hier soll ein einzelner Richter gezielt diffamiert werden“, ZEIT ONLINE, 06.06.2025, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-06/verwaltungsgericht-berlin-asyl-abweisung-grenze-erna-viktoria-xalter/komplettansicht; Frank Bräutigam: Beschluss zu Zurückweisungen: Mehr als eine „Einzelfallentscheidung“, Tagesschau, 03.06.2025, https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/zurueckweisungen-dobrindt-rechtslage-100.html. und die Grundsätzlichkeit ist ebenfalls im Text betont. Und obwohl jede Zurückweisung wahrscheinlich eine furchtbare persönliche Katastrophe ist, lässt sich zynisch sagen: Zahlenmäßig ist die erreichte Verringerung der Fluchtmigration belanglos7Tina Handel: Zurückweisungen und Kontrollen: Was bringt die neue Migrationspolitik?, Tagesschau, 07.06.2025, https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/migration-grenzkontrollen-zurueckweisungen-100.html., aber darum ging es bei der Wertloserklärung der europäischen Dublin-III-Verordnung8Die europäischen Regelungen zur Zuständigkeit für Asylverfahren waren ursprünglich in der irischen Hauptstadt Dublin vereinbart worden, siehe: Informationsverbund Asyl & Migration: Dublin-Verfahren, https://www.asyl.net/themen/asylrecht/dublin-verfahren-und-schutz-im-ausland/dublin-verfahren. wohl nicht. Zumal die Bundesrepublik von den tödlichen, vorverlagerten und technologisch aufgerüsteten9Petra Molnar: Digitale Festungen und Roboterhunde: Technologische Gewalt an den Grenzen der EU und USA, cilip, 28.03.2023, https://www.cilip.de/2023/03/28/digitale-festungen-und-roboterhunde-technologische-gewalt-an-den-grenzen-der-eu-und-usa/. EU-Außengrenzen unter anderem durch ihre günstige Lage zweifellos profitiert hat. Aber auch eine symbolische Ausschließung von Anderen aus der konstruierten nationalen Gemeinschaft kann ein Identitätsangebot an Weiß-cis-Deutsche im Inneren sein.
Im Inland wurde einmal mehr Hass geschürt. Außer dass die mit etwa 40 Jahren schon beinahe altehrwürdige Unterstützungsorganisation Pro Asyl mit „bizarren Falschbehauptungen“10Frederik Eikmanns: Pro Asyl-Chef zu Vorwürfen von rechts: „Wir lassen uns davon nicht einschüchtern“, die tageszeitung, 10.06.2025, https://taz.de/Pro-Asyl-Chef-zu-Vorwuerfen-von-rechts/!6093501/. attackiert wurde, galt im Netz insbesondere die Minderjährigkeit der erfolgreich klagenden 16-jährigen Somalierin als „gefälscht“. Geflüchtete dürfen eben nicht vulnerabel (also etwa besonders jung oder alt, schwanger, von Kleinkindern begleitet und verletzlich) sein. Sie müssen als „bedrohlich“ fantasiert werden können, was letztlich den als „wehrhaft“ eingeforderten Staat remaskulinisiert. Diese Tendenz lässt sich ebenso in anderen Bereichen beobachten.
Im Übrigen hat die Merz-Regierung einen alten AfD-Wunsch erfüllt. „Dobrindt selbst hat es gesagt: Man müsse die Rechtsextremen … ‚wegregieren‘ – indem man die Themen aufgreife, …. Die Grenzkontrollen (die die AfD schon vor fast zehn Jahren gefordert hat) sind das erste Anwendungsbeispiel dieser irregeleiteten Politik der Programmkopie. Deren Botschaft ist: ‚AfD wirkt‘ – und stärkt sie noch mehr“, kommentierte Ursula Rüssmann schon Anfang Mai in der Frankfurter Rundschau die Dobrindtsche Rechtsverletzung.11Ursula Rüssmann: Verschärfte Grenzkontrollen: Koalition begeht wissentlichen Rechtsbruch, Frankfurter Rundschau, 08.05.2025, https://www.fr.de/meinung/kommentare/dobrindts-verschaerfte-grenzkontrollen-rechtsbruch-mit-hohem-preis-93721770.html.
Umso erstaunlicher ist es, dass nach den großen Demonstrationen gegen Rechts, AfD-Verbots-Forderungen etc. eine übereinstimmende rassistische Formierung jetzt kaum auf Proteste trifft. Hat an dieser Stelle bereits eine Gewöhnung eingesetzt oder wirkt die Dauerhetze gegen Flüchtende und Migrierende auch hier?