8M2024, Lateinamerika

In Lateinamerika kämpfen seit Jahren beeindruckend starke feministische Bewegungen gegen Feminizide, Gewalt, Abtreibungsverbote oder sexistische, rassistische und andere Diskriminierungen und Hunderttausende von Menschen waren in den Millionenmetropolen (wie überall in der Corona-Zeit etwas weniger, natürlich) bei den 8.-März-Demonstrationen. Auch dieses Jahr sind letzten Freitag der organisierenden Coordinadora Feminista 8M zufolge in Santiago de Chile 350.000 Personen (die Polizei meint, viel weniger gezählt zu haben) und dem Bündnis Ni Una Menos zufolge in Buenos Aires 400.000 Personen bzw. in ganz Argentinien eine Million auf den Straßen gewesen.1Unter anderem: Coordinadora Feminista 8M: más de 350 mil mujeres marcharon por Santiago, SoyChile, 09.03.2024, https://www.soychile.cl/santiago/sociedad/2024/03/08/850799/marcha-8m-2024.html; Maby Sosa: 8M: Masivo abrazo de feminismos en unidad contra las políticas regresivas del gobierno de Milei, Agencia Presentes, 08.03.2024, https://agenciapresentes.org/2024/03/08/8m-un-abrazo-en-unidad-contra-las-politicas-regresivas-del-gobierno-de-milei. In Mexiko-Stadt waren es nach offiziellen Angaben „180.000 Frauen“ – tatsächlich vermitteln Fotos den Eindruck, dass die Demonstrierenden recht ausnahmslos weiblich gelesene, non-binäre, trans Personen … also Flinta* waren, überall.2Redaktion El Financiero: Marcha del 8M en México: Así se vivieron las protestas por el Día Internacional de la Mujer, El Financiero, 08.03.2024, https://www.elfinanciero.com.mx/cdmx/2024/03/08/marcha-dia-de-la-mujer-8m-2024-minuto-a-minuto-rutas-contingentes-y-ultimas-noticias/.

Demonstration am 8. März in Argentinien, Buenos Aires, Plaza del Congreso

In Argentinien waren die Proteste zum diesjährigen 8. März besonders durch den Backlash geprägt, der mit der ultrarechten, neoliberalen Politik des seit Dezember 2023 amtierenden Präsidenten Javier Milei droht – der sich am liebsten ermächtigen lassen will, per Dekret allein zu regieren3 Miguel Arndt: Nationalkongress in Argentinien soll MileisErmächtigungsgesetzabsegnen, amerika21, 31.12.2023, https://amerika21.de/2024/01/267527/argentinien-ermaechtigungsgesetz-milei, Sophia Boddenberg: Argentinien: Mileis neoliberaler Schockplan, WOZ, 04.01.2024, https://www.woz.ch/2401/argentinien/mileis-neoliberaler-schockplan/!NY4664SENE5Q., und wo bereits die Rücknahme der 2020 schließlich erkämpften Abtreibungslegalisierung angekündigt wurde.4Jürgen Vogt: Argentinien kippt Abtreibungsverbot. Abbrüche nun legal, die tageszeitung, 30.12.2020, https://taz.de/Argentinien-kippt-Abtreibungsverbot/!5740895/. Die Zeitschrift Lateinamerika Nachrichten berichtet in ihrer März-Ausgabe über die Vorbereitungen in der feministischen Vollversammlung in Buenos Aires: Einige zentrale Punkte (neben dem legalen Schwangerschaftsabbruch) seien die Frage des Hungers, eine durch Hetzreden zunehmende rassistische Gewalt und die Kriminalisierung von Protesten gewesen.5Verónica Gago (Übersetzung von Johanna Fuchs): Explosiver März gegen Milei, Lateinamerika Nachrichten, März 2024 (Nummer 597), https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/explosiver-maerz-gegen-milei/. Auch in Chile äußerte sich die Coordinadora Feminista 8M laut dem Editorial dieser Ausgabe in ihrem Aufruf ausdrücklich zur Zunahme von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, „wenn wir über Migrant*innen, rassifizierte Menschen, Pflegekräfte, die Gesundheit der Bevölkerung, verschuldete Menschen und die Kriminalisierung von Armut sprechen“.6Redaktion Lateinamerika Nachrichten: Feminismus in die Offensive, Lateinamerika Nachrichten, März 2024 (Nummer 597), https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/feminismus-in-die-offensive/.

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Geflüchtete FLINTA* angemessen schützen!

Der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen hat zum diesjährigen feministischen Kampftag eine Pressemitteilung zur Situation geflüchteter Frauen* herausgegeben:
„Knapp 94.000 Frauen und Mädchen haben in Deutschland 2023 einen Asylerstantrag gestellt. Insbesondere im Krieg und in stark autoritär und patriarchal geprägten Verhältnissen müssen Frauen Zwangsverheiratung, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Genitalverstümmelung/-beschneidung und andere Grausamkeiten fürchten.

Die seit 2018 geltende Istanbul-Konvention verpflichtet die unterzeichnenden Staaten u. a. zu geschlechtssensiblen Aufnahme- und Asylverfahren. Sie bekräftigt für gewaltbetroffene Frauen die Gewährung internationalen Flüchtlingsschutzes. Im deutschen Asylverfahren werden jedoch bis heute geflüchtete Frauen mit Gewalterfahrung nicht systematisch identifiziert. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Jahr 2023 nur bei 4.800 Frauen und Mädchen eine geschlechtsspezifische Verfolgung festgestellt. Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW, fordert: ‚Der EuGH hat am 16.01.2024 entschieden, dass Frauen eines Herkunftslandes je nach den dort herrschenden Verhältnissen auch als ‚bestimmte soziale Gruppe‘ im Sinne der EU-Anerkennungsrichtlinie gelten können. Dieses Urteil muss nun umgesetzt werden und damit zu einer Änderung dieser Entscheidungspraxis führen!‘

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Sudan: Krieg gegen den Gesellschaftsumbruch

Fünf Jahre liegt das Datum – der 19. Dezember 2018 – jetzt zurück, an dem in mehreren sudanesischen Städten die Demonstrationen stattfanden, die im Sudan die Dezemberrevolution auslösten. Die nicht enden wollenden Proteste führten 2019 zum Sturz des Langzeitherrschers Omar al-Bashir und schließlich zur Bildung einer Übergangsregierung, die aus Militär und Zivilist*innen bestand (eine Zeit der Hoffnung).

Alaa Satir (Wandbild in Khartum 2019): „Wir sind die Revolution.“
Streetart von Alaa Satir (Khartum 2019): „Wir sind die Revolution. Und die Revolution geht weiter.“

Mehr als die Hälfte der 2019 über Wochen und Monate hartnäckig Revoltierenden waren Frauen*1Siehe u. a.: Lisa Westhäußer/Antonia Vangelista: Der Widerstand der sudanesischen Frauen darf nicht vergebens sein, Frankfurter Rundschau, 02.10.2023, https://www.fr.de/politik/sudan-krieg-frauen-militaer-rsf-milizen-gewalt-kaempfe-92513435.html; Melanie Götz: Gespräch mit Eiman Seifeldin über die Rolle von Frauen bei den Protesten im Sudan. „Frauen stellen die Mehrheit auf der Straße“, jungle world, 19.09.2019, https://jungle.world/artikel/2019/38/frauen-stellen-die-mehrheit-auf-der-strasse?page=all. und viele der beteiligten Organisationen/Gruppen bestanden bereits vor den Massenprotesten gegen das Regime. Die Nachbarschaftskomittees (neighbourhood resistance committeees) waren z. B. seit 2013 entstanden und auch feministische Gruppen oder die Tee- und Lebensmittelverkäuferinnen* hatten sich organisiert, wie Sara und Mustafa, Aktivist*innen von SudanUprising Germany, im November bei einer Veranstaltung im Black Pigeon in Dortmund erzählten.
Der Vortrag der beiden Vertreter*innen dieser Plattform sudanesischer und sudanesisch-deutscher Aktiver lässt sich hier (auf Englisch) bei Radio Nordpol nachhören: Krieg gegen Graswurzelbewegungen und Revolution.

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Iran: Proteste nach Tod wegen „einigen Haarsträhnen“

Der Tod der 22-jährigen Mahsa (Zhina) Amini nach einer Festnahme durch die Sittenpolizei hat im Iran in mehreren Städten, unter anderem in Teheran und ihrer Heimatstadt Saqqez, wütende Proteste ausgelöst. Nach einem im Internet verbreiteten Video demonstrierten Frauen* nach der Beerdigung in Saqqez im iranischen Kurdistan, indem sie ihre Kopftücher in der Luft schwenkten und „Tod dem Diktator“ riefen.


Mahsa Amini war letzten Dienstag während einem Verwandtenbesuch in Teheran wegen Nichtbeachtung der Kleidungsvorschriften von der Polizei festgenommen worden – der Hidschab soll verutscht gewesen sein und einige Haarsträhnen sollen zu sehen gewesen sein – und in Polizeigewahrsam gebracht worden. Nach ihrer Festnahme soll ihr auf den Kopf geschlagen worden sein, was zu einer Hirnblutung geführt habe. (Die Sittenpolizei spricht von Herzversagen und will keine Gewalt angewendet haben, aber die Familie hat Behauptungen einer Vorerkrankung von offizieller Seite zurückgewiesen – und Mahsa Amini ist unter Zwang auf die Wache geschafft worden).

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An der Grenze des Weißseins?

In einem Beitrag auf der Plattform LeftEast beschäftigt sich Olena Lyubchenko unter dem Titel An der Grenze des Weißseins? Enteignung, Krieg und soziale Reproduktion in der Ukraine mit der (zurzeit populären) Gleichsetzung von „Ukrainischsein“ mit „Europäischsein“ und „Weißsein“ (weiß im Sinne einer rassifizierten Positionierung in westlichen, rassistisch strukturierten Gesellschaften).

Obwohl die Autorin selbst von einer „kurzen Reflexion“ spricht, ist der Text ziemlich lang; die Übersetzung unten ist deshalb um einige Absätze gekürzt (insbesondere um den einleitenden Teil). Die englische Originalversion ist hier: On the Frontier of Whiteness? Expropriation, War, and Social Reproduction in Ukraine. Die Links aus dem Originaltext und die Fußnoten sind – bei den Fußnoten durch die Kürzungen mit anderer Nummerierung – in den übersetzten Text übernommen.

Da Olena Lyubchenko aus der Perspektive eines „Feminismus der sozialen Reproduktion“ schreibt, sind Frauen* hier die, die aufgrund einer naturalisierten geschlechtlichen Verantwortungszuschreibung Sorge- bzw. soziale Reproduktionsarbeit leisten (das können natürlich auch andere Geschlechter, keine Frage). Die Militarisierung und Kriegsanstrengungen „von oben durch den Staatsapparat“ kritisiert sie als in kapitalistisch-imperialistische Interessen eingebunden, die u. a. zu verstärkter Prekarisierung insbesondere der feminisierten Reproduktionsarbeit geführt haben. Positiv bezieht sie sich dagegen auf einen ukrainischen Widerstand gegen die russische Agression, den sie als Kampf um Selbstbestimmung der Bevölkerung in der Ukraine begreift.

Das nur kurz vorweg, weil nun ein bisschen fehlt. Die Übersetzung setzt unten mit aktuelleren Auswirkungen der Konstruktionen ‚weiß‘/‚nichtweiß’ ein – dem rassistischen Umgang mit Flüchtenden mit anderer als ukrainischer Staatsangehörigkeit.


Gute Europäer*innen

In den ersten Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine konnte die Welt die rassistische Gewalt an den Grenzen der Ukraine zu Polen, Rumänien und Ungarn mitverfolgen. Flüchtlinge aus Afrika, Südasien oder dem Nahen Osten sowie ukrainische Rom*nja und Tausende internationaler Student*innen, die in der Ukraine studierten und arbeiteten, wurden an der Grenzüberquerung gehindert. Manchmal wurden sie sogar von Ukrainer*innen, die Menschenketten bildeten, daran gehindert Züge zu besteigen, die Flüchtende in die EU brachten. Journalist*innen, die von der Grenze berichteten und blau-gelbe Anstecknadeln trugen, prangerten diese Diskriminierung kurz an und wechselten dann schnell zu Bildern ukrainischer Kinder, die von freundlichen deutschen Freiwilligen Spielzeug bekamen. „Gestrandete indische Studierende sahen zu, wie ukrainische Haustiere über die Grenze in Sicherheit gebracht wurden“, lautete eine Schlagzeile. In Nordamerika und Westeuropa servierten Restaurants ukrainische Gerichte und spendeten den Erlös für die Kriegsanstrengungen in der Ukraine, während Einkaufszentren in Blau und Gelb erleuchtet wurden. Auf der Website des Tech-Giganten Amazon gibt es jetzt eine Schaltfläche „Helfen Sie den Menschen in der Ukraine“. Einige der größten Wohnungsunternehmen in Kanada – die während der Pandemie Arbeiter*innenhaushalte räumen ließen und gleichzeitig die Miete für bereits unzureichenden Wohnraum erhöhten – haben ‚sich verbündet‘, um den nach Kanada fliehenden Ukrainer*innen kostenlose und subventionierte Wohnmöglichkeiten anzubieten. Die Medien und westliche Politiker*innen haben entschieden, dass Ukrainer*innen ‚gute‘, ‚europäische‘ Bürger*innen sind, die wertvoll sind, gebildet, IT-Fachkräfte. Rassismus wurde nicht als strukturelles Problem behandelt, sondern als schlechtes Benehmen.

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Zwangsgeheimhaltung

Nach einer Pressemittteilung des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) von Montag ist einem aus Pakistan geflüchteten schwulen Mann trotz der dortigen drastischen Gesetze eine Abschiebung angekündigt worden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war einem Bescheid von Februar zufolge bei der Prüfung von Abschiebehindernissen für den Geflüchteten zu dem Schluss gelangt, er müsse schließlich seine Homosexualität in Pakistan nicht offen leben. Es scheint dem BAMF auch weiterhin egal zu sein, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits 2013 festgestellt hatte, es dürfe von Asylantragstellenden keine Geheimhaltung oder Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Orientierung im Herkunftsland verlangt werden, um einer Verfolgungsgefahr zu entgehen. Und dass das mittlerweile auch das Bundesverfassungsgericht bekräftigt hat.

„In dem genannten Fall führt die BAMF-Entscheiderin sogar aus, dass ein öffentliches Leben als schwuler Mann in Pakistan gefährlich ist. Im Verfolgerstaat Pakistan kann Homosexualität mit der Todesstrafe1Zur gesetzlichen Lage in Pakistan gibt Schweizer Flüchtlingshilfe an (11.06.2015): „Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen sind in Pakistan gesetzlich verboten. … Der Artikel 377 legt fest, dass freiwilliger und ‚unnatürlicher‘ Geschlechtsverkehr mit einem Mann, einer Frau oder einem Tier mit Haft von mindestens zwei Jahren bis lebenslänglich sowie mit einer Busse bestraft wird. Häufig werden zwei weitere Gesetzesartikel angewendet, um Homosexuelle strafrechtlich zu verfolgen. Es handelt sich dabei um den Artikel 294, der ‚obszöne Tänze und Lieder‘ unter Strafe stellt sowie Artikel 295, ein Gesetz gegen Blasphemie. Gemäss dem 1990 eingeführten Scharia-Gesetz werden homosexuelle Handlungen mit Peitschenhieben, Haft oder mit dem Tod bestraft.“ geahndet werden. Die eigentliche Unverschämtheit des Bescheids besteht in der zentralen Begründung der Entscheiderin, die sogar Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung ist. Aus ihrer Sicht sei es dem Mann kein inneres Bedürfnis, seine Homosexualität öffentlich auszuleben. Dies begründet sie damit, dass er seine Homosexualität aus Angst auch in Deutschland verbirgt. Einem schwulen Mann den Wunsch nach einem offenen Umgang mit seiner Homosexualität abzusprechen, weil er – während er in einer Flüchtlingssammelunterkunft wohnt und noch nicht weiß, ob er nicht bald nach Pakistan abgeschoben wird – geheim lebt, widerspricht dabei nicht nur jedem gesunden Menschenverstand, sondern selbst den eigenen europarechtswidrigen aber weiterhin geltenden internen Vorgaben des BAMF“, erklärt der LSVD.

Stop deportation for LGBTIQ*
Hamburg 2018 – Demonstration „Welcome United“
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