Von Neuss nach Büren

Zwischen der Kleinstadt Büren (Kreis Paderborn) und einer Autobahnauffahrt liegt im Wald versteckt mit über 300 Haftplätzen das größte Abschiebegefängnis der BRD. Für 35 Millionen Mark ließ die nordrhein-westfälische Landesregierung 1993 ein früheres Kasernengelände zum Knast umbauen. Seitdem die Frauenhaftanstalt in Neuss Ende 2011 geschlossen wurde, sind in Büren auch Frauen* untergebracht, die abgeschoben werden sollen.
Hier folgt nun die Dokumentation eines Redebeitrags während der Demonstration gegen den Abschiebeknast in Büren am am 08. September 2012:

Zwischen 1993 und 2011 befand sich in der Grünstraße in Neuss der bundesweit einzige Abschiebeknast, in dem ausschließlich Frauen inhaftiert waren. Weil die dort – für 80 bis 90 Frauen – vorgesehenen Plätze im Schnitt „nur“ noch zu 20 Prozent belegt waren, wurde die Frauenhaftanstalt in Neuss Ende letzten Jahres geschlossen. Seitdem werden hier, in Büren, streng getrennt von den untergebrachten Männern, auch Frauen eingesperrt. Im Allgemeinen befinden sich hier momentan 10 – 15 Frauen zur gleichen Zeit, manchmal auch mehr.

Demonstration gegen Abschiebehaft in Büren
Umzäuntes Waldstück neben dem Bürener Knast

Diese Veränderungen weisen nicht nur auf die Mauern hin, die in diesen Jahren um Europa hochgezogen wurden, um Migration und Flucht unmöglich zu machen oder zu selektieren. Sie rücken auch politische Verschiebungen und Konjunkturen bei der Bestimmung von „Illegalität“ oder „Legalität“ oder Transformationen von Migrationswegen ins Blickfeld.

Mitte der 1990er Jahre waren im Abschiebeknast Neuss überwiegend illegalisiert arbeitende Frauen inhaftiert. Darunter waren Frauen aus Lateinamerika, die hauptsächlich in Haushalten (als Hausangestellte, Putzfrauen oder Kinderbetreuerinnen) arbeiteten, oder mittel- und osteuropäische Frauen, von denen viele mit Sexarbeit ihr Geld verdienten, ebenso wie Frauen aus afrikanischen und asiatischen Ländern. Nur wenige waren nach der Ablehnung eines Asylantrags in Haft genommen worden.

Aufgrund rassistischer und sexistischer Zuschreibungen, die mit Migration, Geschlecht und Status verbunden sind, waren und sind Migrantinnen (insbesondere mit prekärem Aufenthaltsstatus) häufig auf Arbeitsmöglichkeiten im Reproduktionssektor beschränkt. (Daran hat sich nichts geändert.) Teilweise werden allerdings Frauen in der gleichen Migrationssituation mittlerweile nicht mehr eingesperrt: Für das Jahr 2004 kam der Jahresbericht der Psychosozialen Beratungsstelle, die in Neuss die Frauen unterstützte, zu dem Schluss, dass die damals gesunkene Zahl inhaftierter Frauen auch auf die Osterweiterung der Europäischen Union zurückzuführen war: Ein (nicht „regulärer“) Aufenthalt von Frauen aus den neuen EU-Mitgliedsländern führte nun nicht mehr einfach zu Haft und Abschiebung.
In den Jahren danach waren zeitweise mehrheitlich afrikanische Frauen in Neuss inhaftiert.

Zurzeit sind es meistens Rom*nja oder Angehörige anderer Minderheiten aus Serbien oder dem Kosovo, die seit Jahren oder Jahrzehnten ohne sicheren Aufenthaltsstatus, lediglich „geduldet“, in Ungewissheit hier leben und nun abgeschoben werden sollen – und deshalb in Büren untergebracht werden. So wird zum wiederholten Mal (institutionalisierte) Gewalt gegen die Geflüchteten ausgeübt, deren Hoffnung auf ein besseres Leben zerstört wird.
Denn auch wenn Rom*nja hier ebenfalls ausgegrenzt und diskriminiert werden: Dort erwartet sie ausschließlich Perspektivlosigkeit und ein Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. So schafft sich der Antiziganismus seine Realität: Das heißt, mit ihrer Abschiebung in die ex-jugoslawischen Staaten werden sie endgültig in soziale Verhältnisse gezwungen, die den Bildern, Vorurteilen oder Klischees entsprechen: ghettoisiert, verelendet, am Rand der Gesellschaft lebend.

Im Kosovo sind Roma vom regulären Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen und ihre Arbeitslosigkeit liegt bei über 90 %; Armut und Diskriminierung bestimmen ihren Alltag. Alleinstehende (von Angehörigen und Freund_innen getrennt) in den Kosovo abgeschobene Frauen haben keine Chancen: Zum Überleben auf die informelle Ökonomie angewiesen, ist es für sie kaum möglich, ohne verwandtschaftliche oder andere Unterstützung wenigstens ihr Existenzminimum zu sichern.

Die (allgemeine) Wahrnehmung „der Migrantin“, die in hier Haft genommen wird, ist allerdings stark geprägt von Vorstellungen, die migrierenden (und flüchtenden) Frauen im Wesentlichen eine Opferrolle zuweisen. D. h. Bilder, die beispielsweise von den Medien gezeichnet werden, sind im Allgemeinen die von Frauen, die betrogen und von Menschenhändlern verschleppt werden, oder die von Frauen, die Unfreiheit und sexistischer Unterdrückung unterworfen sind, die wiederum überwiegend „anderen“ Gesellschaften zugeschrieben werden – als gäbe es sie hier nicht ebenso.
Infolgedessen wird nach stärkeren und restriktiveren Kontrollen gerufen, und die Inhaftierung der Frauen wird oft als „Rettung“ inszeniert. Was nötig ist, sind jedoch ein Aufenthalt und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Geschlechtervorstellungen sprechen migrierenden und flüchtenden Frauen – immer noch – vielfach ein Eigeninteresse und eine eigene Entscheidung ab, obwohl sich die Migration zunehmend „feminisiert“ hat; d. h. der Anteil migrierender Frauen ist weltweit gestiegen und hat mittlerweile im Durchschnitt eine männliche Migration erreicht oder überholt.

Frauen machen sich aus unterschiedlichen Gründen auf den Weg: sie flüchten vor Kriegen oder vor politischer Verfolgung, weil sie das falsche Geschlecht haben, wegen ihrer sexuellen Orientierung, sie flüchten vor Verarmung und migrieren gegen ein global ausdifferenziertes Gefälle, in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und aus Verantwortung für ihre Familien, aber auch um eigene Wünsche, Pläne, Projekte umzusetzen. (Um hier einige der Gründe zu nennen.) Teilweise flüchten und migrieren sie unter hohem Risiko auf den öffentlich wahrgenommenen Routen über die oft tödlichen Grenzen Europas – aber auch abseits dieser Flucht- und Migrationsrouten, etwa als Heiratsmigrantinnen oder in die Dienstleistungssektoren der reichen Länder.

Da die rassistische Ausgrenzung mit anderen Unterdrückungsformen zusammenwirkt, können Frauen – entgegen offiziellen Verlautbarungen über ihre „besondere Schutzbedürftigkeit“ – allerdings auch und gerade durch die Umstände von Migration und Flucht Opfer werden: d. h. durch eine Migrationspolitik, die sie auf Flucht- und Migrationswegen oder in Arbeitsverhältnissen (weiteren) Gewalterfahrungen aussetzt, durch aufenthaltsrechtliche Regelungen, die sie in Abhängigkeitsverhältnisse bringen, oder hier als Geflüchtete in den ihnen zugewiesenen Unterkünften. Gerade Flüchtlingslager, als Orte eines fremdbestimmten Alltags, begünstigen – etwa durch das Machtgefälle zwischen Personal und Bewohnerinnen oder die Wohnbedingungen – sexualisierte Gewalt oder Ausbeutung.

Daraus entstehen komplexe, teilweise widersprüchliche Bedingungen, in denen migrierende und flüchtende Frauen Hierarchien herausfordern und selbstbewusst und eigenständig handeln – und gleichzeitig (immer wieder) Macht- und Unterdrückungsverhältnissen unterworfen werden. Manche von ihnen finden sich schließlich in Abschiebehaft wieder, in einer Situation, in der ihnen die Handlungsfreiheit vollständig genommen wird – und unter Umständen, wie hier in Büren, sogar eine angemessene Gesundheitsversorgung z. B. bei Schwangerschaft vorenthalten wird: Die Frauenärztin wollte einen gynäkologischen Stuhl und ein Wehenmessgerät, aber die Knastleitung hat sich geweigert, die notwendigen medizinischen Geräte anzuschaffen.

Ihre drohende Abschiebung ist existenzgefährdend, sie traumatisiert die Frauen unter Umständen erneut, setzt sie erneuter Verfolgung aus, zwingt sie in Elendsverhältnisse und stellt sie möglicherweise vor einen lebensgeschichtlichen Scherbenhaufen.

Gegen den rassistischen und sexistischen Normalzustand – Bewegungsfreiheit für Alle!

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