Die kommen wollen, sollen kommen

Nachdem Afghanistans Hauptstadt Kabul Sonntag vor einer Woche gefallen war, haben die Taliban-Milizen dort mit der Einnahme des Präsidentenpalasts (Präsident Aschraf Ghani ist außer Landes geflohen) auch symbolisch die Macht übernommen. Obwohl sich die Taliban im Land bereits seit einiger Zeit auf dem Vormarsch befanden, war die Evakuierung gefährdeter Ortskräfte – von Afghan*innen, die für Bundeswehr, Polizeikräfte, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder in NGO-Projekten gearbeitet haben – bis zuletzt durch aufwendige, monatelange Visa-Prozeduren verhindert worden.1Siehe u. a.: Julia Klaus/Nils Metzger: Tausende Anträge noch offen: Die Visa-Hölle der afghanischen Ortskräfte, ZDF, 19.08.2021, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-ortskraefte-visa-100.html; afp/ap/epd etc.: Aktuelle Nachrichten zu Afghanistan: Warnschüsse am Kabuler Flughafen, die tageszeitung, 19.08.21, https://taz.de/Aktuelle-Nachrichten-zu-Afghanistan/!5794618/. Auch Abschiebungen von Flüchtlingen aus Deutschland nach Afghanistan waren erst unmittelbar vor ihrem Einzug in Kabul ausgesetzt worden; anerkannte Geflüchtete in Deutschland müssen wiederum mit jahrelangen, nervenaufreibenden Wartezeiten leben, bis zurückgelassene Familienangehörige nachziehen dürfen.

In der vergangenen Woche haben deshalb bundesweit Tausende von Menschen mit Demonstrationen und Kundgebungen die Aufnahme bedrohter Afghan*innen gefordert, weitere Aktionen sind für diese Woche geplant. In Dortmund fand nach einem Seebrücke-Aufruf am Mittwoch ebenfalls eine Kundgebung statt, an der ungefähr 500 Menschen teilnahmen, darunter viele mit Fluchthintergrund.

Afghanistan-Kundgebung in Dortmund: Luftbrücke jetzt
Afghanistan-Kundgebung in Dortmund: Luftbrücke jetzt! (Foto von @afa170 auf twitter)

Die Frage allerdings, wie dieser (angeblich unerwartete) Taliban-Durchmarsch nun so schnell möglich war, wurde nach der Machtübernahme vielfach gestellt – und beantwortet. Die Künstlerin Mahbuba Maqsoodi, die 2003 mit anderen Afghaninnen* den Verein Afghanische Frauen in München gründete, führte etwa letzte Woche im Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus: „Die Regierungen, die der Westen an die Macht gebracht hat, bestanden größtenteils aus Mudschaheddin. Die waren so korrupt, dass man in diesem Land fast keinen Schritt ohne Bestechungsgeld machen konnte. Sie haben in den Achtzigerjahren gekämpft, getötet und viel von der Infrastruktur des Landes vernichtet. … Auch sie haben Lehrerinnen umgebracht und Schülerinnen daran gehindert zu lernen. Aber sie wurden vom Westen als Freiheitskämpfer unterstützt.“2Sabine Buchwald: Traurig, aber nicht überrascht, Interview mit Mahbuba Maqsoodi, Süddeutsche Zeitung, 19.08.2021. Dass der Westen „jahrelang eine Regierung von Kleptokraten“ förderte, in der sich die Warlords bereicherten, schrieb auch die Neue Zürcher Zeitung, zudem forderte der westliche Einsatz unter der Zivilbevölkerung Opfer: „Zivilisten wurden bei nächtlichen Hausdurchsuchungen getötet, später bei Drohnenangriffen.“3Andreas Babst: Zwanzig Jahre hat der Westen an Afghanistan gebaut. Innert Tagen bricht alles zusammen. Wie konnte das passieren?, Neue Zürcher Zeitung, 16.08.2021, https://www.nzz.ch/amp/international/afghanistan-wie-konnte-der-staat-innert-tagen-kollabieren-ld.1640606. 

Diese Politik schuf also lediglich einen „Fassadenstaat“, was sich unter anderem zum Nachteil der Lage der Afghaninnen* ausgewirkt hat, die als ein Kriegsgrund dargestellt worden war (mehr zu feministischen Anliegen als Legitimation für den Militäreinsatz hier), wie ebenfalls andere in den Medien Interviewte erklärten. „Die Warlords und auch Mitglieder der Regierung waren teilweise nicht weniger islamistisch als die Taliban. Politikerinnen, Frauen, die Frauenhäuser aufgebaut oder sich öffentlich positioniert haben, wurden von Regierungsangehörigen als Ungläubige beschimpft und quasi zum Abschuss freigegeben“, sagte Friederike Stahlmann, die lange in Afghanistan gelebt hat, gegenüber der Frankfurter Rundschau.4Bascha Mika: Afghanistan: „Die Chance auf ein selbstgewähltes Leben ist zunichte“, Interview mit Friederike Stahlmann, Frankfurter Rundschau, 18.08.2021, https://www.fr.de/politik/die-chance-auf-ein-selbstgewaehltes-leben-ist-zunichte-90928749.html. Monika Hauser von der Organisation medica mondiale, die sich in Afghanistan für Frauen*rechte stark machte und deren Mitarbeiterinnen* noch nicht in Sicherheit sind, äußerte sich ähnlich. „Auch im Parlament und in der Regierung gab es so viel fundamentalistisches Gedankengut, dass unsere Arbeit schon bislang schmerzhaft und gefährlich war.“5Tagesschau.de: Frauenrechtlerinnen in Afghanistan: „Die Arbeit war nicht vergebens“, Interview mit Monika Hauser, tagessschau, 19.08.2021, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/interview-hauser-frauen-afghanistan-101.html.

Keine Hoffnung für Afghan*innen?

Dennoch sind vorhandene Spielräume genutzt worden und aus verschiedenerlei Gründen Gefährdete in Afghanistan befürchten nun das Schlimmste, bis hin zum Mord. Die Erfahrungen mit der Taliban-Herrschaft vor 20 Jahren lassen (trotz jetziger moderaterer Aussagen) wenig Hoffnung. Zwar wurde vor einigen Tagen in einer bisher einzigartigen Premiere ein Taliban-Sprecher in Kabul von einer Nachrichtenmoderatorin des populären Senders Tolo TV interviewt6Jim Waterson: Female presenter interviews Taliban spokesman on Afghanistan television, The Guardian, 17.08.2021, https://www.theguardian.com/world/2021/aug/17/female-presenter-interviews-taliban-spokesman-on-afghanistan-television. und viele, besonders junge Menschen wollen (noch) nicht aufgeben. Jedoch (nicht nur) die tageszeitung berichtet, in afghanischen Regionen schüfen „Taliban-Vertreter offenbar Tatsachen“. „In der Westprovinz Herat ‚beschlossen‘ örtliche Taliban und Leiter staatlicher und privater Universitäten, dass Studentinnen und Studenten künftig nicht mehr gemeinsam studieren dürfen. Dozentinnen dürften nur noch Frauen unterrichten. … In der Provinz Ghasni untersagte der Chef der örtlichen Informations- und Kulturkommission Frauen, weiter bei lokalen Radiosendern zu arbeiten sowie die Ausstrahlung von Musikprogrammen.“7Thomas Ruttig: Talibanherrschaft in Afghanistan: Ungeklärte Zustände, die tageszeitung, 22.08.21, https://taz.de/Talibanherrschaft-in-Afghanistan/!5791275/. Ähnliche Nachrichten über Berufsverbote, Verschleierungsdiktate oder Zwangsverheiratungen mit Kämpfern meldeten verschiedene Medien aus Teilen Afghanistans.8Unter anderem: Elisabeth Schmidt: Machtübernahme der Taliban: Afghanische Frauen leben in Angst, Interview mit Shafiqa Hassan, ZDF, 23.08.2021, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-frauen-rechte-100.html. Die Situation stellt sich als bedrohlich und ungewiss dar.

Klar ist aber: Das katastrophale Ende der „Afghanistan-Mission“ macht dort wie hier erneut deutlich, dass „der Westen“ für die Werte – etwa den Schutz von Frauen*rechten oder Menschenrechten – nicht eintreten will, die er für sich (verbal) in Anspruch nimmt. Denn trotz Truppenabzug wäre nach der langen gewaltvollen Militärpräsenz eine gebührende Verantwortung gegenüber den Afghan*innen zumindest durch frühzeitige Evakuierungen, ermöglichten Familiennachzug etc. zu übernehmen gewesen – wenn besonders Innenminister Seehofer (aber auch anderen wie Außenminister Maas oder Kanzlerkandidat Laschet) Menschenleben mehr wert wären. Das gegenwärtige Fluchtchaos um den Flughafen Kabul mit schon mehreren Toten ist, neben rechten Umtrieben in Polizei und Bundeswehr oder Polizeigewalt, einer entsetzlichen Flüchtlingssituation in Griechenland usw., ein weiteres Element im Bild einer westlichen Welt, die eine angenommene „Rückständigkeit“ auf Andere projiziert und sich genau da als leere Hülle erweist. Auch in Europa sind in den letzten Jahren (hart erkämpfte) Rechte von LGBTI+-Personen und Frauen* prekärer geworden oder stark beschnitten worden. Bereits hier wäre, über das symbolische Heraushängen von Regenbogen-Fahnen hinaus, ein Flaggezeigen (im eigenen Land wie ebenfalls gegenüber anderen Regierungen) unter anderem nötig.

So oder so, momentan gilt: Luftbrücke aus Afghanistan jetzt! Die Afghan*innen, die kommen wollen, sollen kommen. Nach diesem lange eingefädelten Desaster ist es das Mindeste.

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