Am 17. August, drei Monate nach der Schließung des Straßenstrichs im Mai letzten Jahres, wurde in Dortmund eine aus der bulgarischen Stadt Plovdiv zugewanderte Frau von einem Freier durch Messerstiche schwer verletzt und aus dem Fenster einer Wohnung geworfen. Der Prozess gegen den Freier wegen versuchten Totschlags und schwerer Körperverletzung hat nun am 10. Februar begonnen.
„Da muss sie als Zeugin aussagen, deshalb darf sie noch bis Mitte des Jahres in Dortmund bleiben“, schildert die WDR-Dokumentation Der Weg der Wanderhuren Mitte Januar die Situation der bulgarischen Migrantin, die zunächst auf dem Straßenstrich, dann illegalisiert in der Nordstadt Dortmunds arbeitete und nun dauerhaft auf medizinische Versorgung angewiesen ist. Nach Abschluss des Verfahrens droht der 25-Jährigen, die lebenslange Schäden davongetragen hat, die Abschiebung nach Bulgarien. Ihre Mutter, die ebenfalls in Dortmund lebt, ist zu diesem Zeitpunkt bereits unter Androhung der Abschiebung aufgefordert worden, auszureisen – und damit die Tochter allein zu lassen. „Der Grund: kein Einkommen, keine Wohnung, keine Krankenversicherung.“
Zwar können seit den Beitritten Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union 2007 Staatsangehörige dieser Länder auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in andere EU-Staaten migrieren, die EU-Freizügigkeit kann ihnen jedoch entzogen werden, wenn keine ausreichenden Existenzmittel oder kein ausreichender Krankenversicherungsschutz nachgewiesen werden. Seit der Schließung des Straßenstrichs und der Ausweitung des Sperrbezirks auf das gesamte Stadtgebiet setzt der ordnungspolizeiliche Repressionskatalog der Stadt Dortmund unter anderem darauf, dass die EU-Freizügigkeit letztlich nur selektiv gilt, um die Vertreibung der osteuropäischen Sexarbeiter_innen doch noch durchsetzen.
Viele der Frauen* sind trotz der Strichschließung geblieben. Sie arbeiten seitdem im Verborgenen unter prekäreren Bedingungen und größeren Gefahren als früher auf dem Straßenstrich mit seinen Verrichtungsboxen mit Alarmknöpfen – in Wohnungen oder Hinterzimmern von Kneipen oder Teestuben. „Aber zurück nach Bulgarien? Das sei die schlimmste aller Möglichkeiten.“ So sind nicht nur die Frauen*, sondern auch Familienangehörige im Herkunftsland auf die geringen Verdienste der bulgarischen Zuwander_innen und ihre Rücküberweisungen angewiesen. „Das meiste Geld kommt aus dem Ausland“, berichtet der Dokumentarfilm über Plovdivs Stadtviertel Stolipinovo. „Bei den drei Büros für Bargeldtransfer treffen täglich allein bis zu 120 Überweisungen aus Dortmund ein.“
Dortmund liegt im Trend: Tendenzen zu einem repressiveren Vorgehen zeichnen sich auf bundespolitischer Ebene z. B. im letzten Jahr mit einer Gesetzesinitiative von Familienministerin Schröder, die Polizei und Ordnungsbehörden erweiterte Kontrollmöglichkeiten einräumen soll, sowie europaweit ab, so dass Aussichten auf Entstigmatisierung und eine tatsächliche Gleichstellung mit anderen Tätigkeiten für Sexarbeiter_innen mittlerweile wieder weiter wegrücken. Der damit verbundenen stärkeren Gefährdung der Frauen* war sich die Stadt Dortmund durchaus bewusst. „Wenn wir das jetzt abgeschafft haben, dann ist es natürlich richtig, dass die Sicherheit dann auch wieder eingeschränkt ist. Das ist richtig, aber das haben wir in Kauf genommen“, kommentiert in der Filmdokumentation Dortmunds Ordnungsdezernent Wilhelm Steitz die Schließung des Straßenstrichs im Mai.
Gute Arbeits- und Lebensbedingungen für alle!
Keine Abschiebungen nach Bulgarien!
Quellen:
Martin von Braunschweig: Brutales Verbrechen: Prostituierte aus dem Fenster gestoßen. Ruhr Nachrichten, 10.02.2012, http://www.ruhrnachrichten.de/lokales/dortmund/Prostituierte-aus-Fenster-gestossen-Prozess;art930,1553552.
Kathrin Melliwa: Prostituierte sitzt nach Fenstersturz in der Nordstadt im Rollstuhl. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 03.02.2012, http://www.derwesten.de/staedte/dortmund/nordstadt/prostituierte-sitzt-nach-fenstersturz-in-der-nordstadt-im-rollstuhl-id6312926.html.
Der Weg der Wanderhuren. Zwischen Dortmund und Stolipinovo. Autoren: Edeltraud Remmel und Esat Mogul. WDR-Fernsehen, 07.02.2012, http://www.wdr.de/tv/weltweit/sendungsbeitraege/2012/0207/index.jsp.
Simone Schmollack: Ministerin fordert Konzessionen für Bordelle. Die Prostituierten protestieren. Die Tageszeitung, 26.05.2011, http://www.taz.de/!71424/.