The Truth lies in Rostock

Es herrschte zeitweise regelrechte Volksfeststimmung, als vor 30 Jahren, zwischen dem 22. und 25. August 1992, eine aggressiv-rassistische Menge aus Anwohner*innen und Neonazis in Rostock-Lichtenhagen das ‚Sonnenblumenhaus‘ belagerte, in dem sich neben der Zentralen Aufnahmestelle für Geflüchtete (ZAST) ein angrenzendes Wohnheim für vietnamesische Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen befand. Am 24. August 1992 wurde das Haus unter dem Beifall Tausender mit Steinen und Brandsätzen angegriffen und in Brand gesetzt; die Polizei zog sich zwischenzeitlich zurück. Nur der Initiative der in dem brennenden Haus eingeschlossenen etwa 120 Vietnames*innen (bei denen sich auch ein Fernsehteam des ZDF und einige Rostocker*innen befanden), die schließlich einen Fluchtweg über das Dach öffneten, ist es zu verdanken, dass es keine Toten gab.
Das rassistisch aufgeheizte Klima (verbunden mit weiteren Mordanschlägen) wurde von der Politik gefördert und genutzt, um 1993 die De-facto-Abschaffung des Asylrechts durch den Bundestag durchzusetzen.

Der Film „Die Wahrheit lügt (liegt) in Rostock“/„The Truth lies in Rostock“ von 1993 (Produktion: Spectacle London, JAKO videocoop Rostock, Realisation: Mark Saunders, S. Cleary) dokumentiert unter Beteiligung von Menschen, die sich während der Ausschreitungen im Wohnheim befanden, die Ereignisse.

SELBSTBESTIMMUNG WEIT ENTFERNT

USA Anfang Mai 2022: Über das Magazin Politico gelangt ein Entscheidungsvorschlag des US Supreme Court in einem Rechtsstreit um ein beschlossenes, aber bislang unwirksames Abtreibungsgesetz des US-Bundesstaates Mississippi an die Öffentlichkeit. Der Entwurf für das Urteil des höchsten Gerichts der Vereinigten Staaten sieht vor, die Grundsatzentscheidungen Roe v. Wade (1973) und Planned Parenthood v. Casey (1992) aufzuheben und die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch (wieder) den US-Bundesstaaten zu überlassen. Tatsächlich sind in vielen konservativen US-Staaten die Gesetze bisher lediglich außer Kraft gesetzt bzw. liegen bereits in den Schubladen, um Schwangerschaftsabbrüche zu kriminalisieren und zu bestrafen.
Weil kein US-weites Abtreibungsgesetz besteht, basiert das Recht momentan auf den früheren höchstrichterlichen Entscheidungen, die einen Abbruch bis zur Lebensfähigkeit (d. h. bis etwa maximal zur 24. Woche) erlauben. Das könnte sich noch in diesem Juni (oder Anfang Juli) ändern, da das tatsächliche Urteil des Supreme Court vor den danach beginnenden Gerichtssommerferien erwartet wird. Trotz Protesten (etwa Mitte Mai in 450 Städten) – und obwohl in den USA eine Bevölkerungsmehrheit Abtreibungen für richtig hält – wird sich der seit der Trump-Amtszeit mehrheitlich konservativ besetzte oberste Gerichtshof mit ziemlicher Sicherheit für ein Ende des fast 50 Jahre geltenden US-Abtreibungsrechts aussprechen.

(Wenn ich dieses Ereignis meines Lebens in einem einzigen Gemälde darstellen müsste, würde ich einen kleinen Resopaltisch vor einer Wand malen und eine Emailschüssel, in der eine rote Sonde schwimmt. Rechts davon eine Haarbürste. Ich glaube nicht, dass in irgendeinem Museum der Welt eine Werkstatt der Engelmacherin hängt.)
Annie Ernaux1Annie Ernaux: Das Ereignis. Berlin Suhrkamp 2021, S. 74 (in Frankreich bereits 2000 erschienen).

Frankreich in den 60er-Jahren: Ungeschminkt und mit drastischen (realen) Einzelheiten schildert die Schriftstellerin Annie Ernaux in der autobiografischen Erzählung Das Ereignis eine Abtreibung unter den damaligen Bedingungen der Strafbarkeit. Nach einer mühseligen und demütigenden Suche nach Hilfe und eigenen Versuchen (Stricknadel, viel körperlicher Anstrengung) endet schließlich der Besuch bei einer „Engelmacherin“ Tage später mit einem Abgang, in dessen Folge sie fast verblutet und in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht wird. „Vielleicht wirkt diese Beschreibung irritierend oder abstoßend, oder sie mag als geschmacklos empfunden werden … Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail schildere, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern“, schreibt sie zur Erklärung.2Annie Ernaux: Das Ereignis. Berlin Suhrkamp 2021, S. 48. Durch ein Verbot werden Schwangerschaftsabbrüche eben nicht abgeschafft, sondern eher lebensgefährlich gemacht.

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RESPECT EVERY BODY

Anfangstransparent Demonstration 8M22

Zum feministischen Kampftag, dem 8. März, fand hier gestern, also an einem ein wenig vorgezogenen Datum, eine Demonstration mit dem Schwerpunkt Respect Every Body (Respektiert jeden Körper) statt. Die vom Feministischen Kollektiv Dortmund organisierte Aktion bot vielfältige Redebeiträge zum Thema, begann aber auf dem Friedensplatz zunächst mit einem Betrag zur aktuellen Situation und der Forderung nach Solidarität mit allen Flüchtenden und Betroffenen von Kriegen. Gesprochen wurde danach bei den Zwischenkundgebungen über (Hetero-)Normierungen, beispielsweise in ausschließenden Kopftuchverboten, gesellschaftlichen binären Geschlechterrollen angesichts eigener Nichtbinarität (von einer Person der Gruppe TransAction Dortmund), es folgte ein Poetryslam zur Demothematik und beim nächsten Halt gab es Beiträge zum Leben wohnungsloser Frauen*, unter anderem ein eingespieltes Interview, auch zu erfahrener Gewalt, und dann einen Beitrag zu (sexuellem) Konsens. Die von einer Rythms-of-Resistance-Gruppe begleitete Demonstration mit ungefähr 250 Teilnehmer*innen endete am Nordmarkt und dort ging es dann noch einmal um Queer-Feindlichkeit, um die Situation behinderter FLINTA, ein Zusammenspiel von Sexismus und Antisemitismus oder die psychischen Auswirkungen patriarchaler Strukturen.

Hier sind nun noch einige bildliche Eindrücke von gestern:

’N Scheiß ist das: Krieg

Nichts rechtfertigt diese Offensive oder die Bombardierungen – genauso, übrigens, wie nichts sie etwa im vergessenen Jemen rechtfertigt –, mit denen die russische Putin-Regierung die imperiale Gleichrangigkeit mit den Nato-Staaten militärisch herstellen (oder beweisen) will. Besonders die ukrainische Bevölkerung wird unter dem Kampf um Vorherrschaft, in dem die Ukraine Verhandlungsmasse geworden ist, stark leiden müssen und dann alle, die den Krieg sonst bezahlen (z. B. durch höhere Energiekosten, ohne sie finanzieren zu können), auch in Russland.
(Hartz-IV-Empfänger*innen und Menschen in ähnlicher Lage müssen entschädigt werden! Das nur als Zwischenbemerkung.)
Aber unabhängig davon sollten wir jetzt hier (ebenfalls) genau hinsehen: Denn anders als oft behauptet wird, ist der Angriff nicht der erste Krieg in einem sonst seit dem II. Weltkrieg friedlichen Europa, sondern die Kommentator*innen vergessen bloß zu gerne den Kosovo-Krieg der Nato im Jahr 1999.
Während also geredet wird, als hätte es die damalige Militärintervention unter Beteiligung der Bundeswehr nie gegeben, wird parallel mit den Rüstungsbeschlüssen der Bundesregierung über ein ‚Sondervermögen‘ von 100 Milliarden € an zusätzlichen Militärausgaben die Gesellschaft (weiter) militarisiert, die Rüstungsspirale hochgedreht. Und wenn die Ukraine von Wirtschaftsminister Habeck außerdem (mit seiner Rede von ihrer „militärischen Vergewaltigung“) weiblich aufgeladen wird und er sich/den Westen als Beschützer anbietet, spricht er deutlich in traditionellen Stereotypen militärischer Legitimation.

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Aufklärung und Konsequenzen

Aus rassistischen Motiven waren am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen erschossen worden. Deshalb wurde am Samstag dort und in vielen anderen Städten (auch in Dortmund oder Bochum) anlässlich des zweiten Jahrestags der Morde an die Opfer erinnert.

#SayTheirNames
#SayTheirNames: Aufkleber mit den Namen der Ermordeten

Serpil Temiz Unvar, die ihren Sohn Ferhat Unvar durch den rassistischen Angriff verlor, veröffentlichte bereits zwei Tage vor dem Gedenktag einen offenen Brief an die Bundesregierung und den Bundespräsidenten – in dem sie schrieb, die Angehörigen hätten auf ihre Fragen noch immer keine Antworten erhalten. Fast zwei Jahre lang seien sie „von den Verantwortlichen in Hessen mit Worten vertröstet, aber doch wie Menschen zweiter Klasse behandelt“ worden. Wenn es nun „eine kleine Chance“ gebe … „dann nur, weil wir seit 2 Jahren jeden Tag kämpfen, anstatt in Ruhe trauern zu können. … Es wird keine bessere Zukunft geben, wenn das Vergangene nicht aufgeklärt wird, wenn es keine Gerechtigkeit gibt für die, die angegriffen und ermordet wurden. Denn das Vergangene lebt in uns allen fort, in den Hinterbliebenen und Zurückgelassenen, aber auch in der Geschichte unserer Gesellschaft. Und wenn wir über mangelnde Aufklärung sprechen, dann geht es um mehr als um Hanau, dann müssen wir auch über die Aufklärung der rassistischen Taten der letzten 30 Jahre sprechen.“ (Um die z. B. auch in Dortmund die Angehörigen des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık seit Jahren kämpfen, ließe sich hier hinzufügen.)

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