Aufklärung und Konsequenzen

Aus rassistischen Motiven waren am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen erschossen worden. Deshalb wurde am Samstag dort und in vielen anderen Städten (auch in Dortmund oder Bochum) anlässlich des zweiten Jahrestags der Morde an die Opfer erinnert.

#SayTheirNames
#SayTheirNames: Aufkleber mit den Namen der Ermordeten

Serpil Temiz Unvar, die ihren Sohn Ferhat Unvar durch den rassistischen Angriff verlor, veröffentlichte bereits zwei Tage vor dem Gedenktag einen offenen Brief an die Bundesregierung und den Bundespräsidenten – in dem sie schrieb, die Angehörigen hätten auf ihre Fragen noch immer keine Antworten erhalten. Fast zwei Jahre lang seien sie „von den Verantwortlichen in Hessen mit Worten vertröstet, aber doch wie Menschen zweiter Klasse behandelt“ worden. Wenn es nun „eine kleine Chance“ gebe … „dann nur, weil wir seit 2 Jahren jeden Tag kämpfen, anstatt in Ruhe trauern zu können. … Es wird keine bessere Zukunft geben, wenn das Vergangene nicht aufgeklärt wird, wenn es keine Gerechtigkeit gibt für die, die angegriffen und ermordet wurden. Denn das Vergangene lebt in uns allen fort, in den Hinterbliebenen und Zurückgelassenen, aber auch in der Geschichte unserer Gesellschaft. Und wenn wir über mangelnde Aufklärung sprechen, dann geht es um mehr als um Hanau, dann müssen wir auch über die Aufklärung der rassistischen Taten der letzten 30 Jahre sprechen.“ (Um die z. B. auch in Dortmund die Angehörigen des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık seit Jahren kämpfen, ließe sich hier hinzufügen.)

„Aufklärung und Konsequenzen“ weiterlesen

Nachlese(n): Care, Krise, Covid-19

Es ist auffällig, dass die meisten der gefundenen Texte bereits 2020 entstanden sind; eine Gewöhnung hat eingesetzt, die Pandemie-Situation ist in vielem gleich geblieben (obwohl kein Lockdown mehr besteht), z. B. der Druck auf Pflegepersonal, oder es ist zu mühsam, den sich ständig ändernden Maßnahmen feministisch-kritisch hinterherzuschreiben. Vielleicht ist auch die Hoffnung, dass sich gerade jetzt Verhältnisse verbessern lassen, weil die oft unsichtbare Care-Arbeit sichtbarer geworden (und zeitweilig als systemrelevant bezeichnet worden) ist, inzwischen ganz, ganz klein geworden.
Das (damals) Geschriebene behandelt unter anderem die intensivierte Gewalt gegen Frauen*/LGBTI*+, (retraditionalisierte) Geschlechterrollen in der Reproduktionsarbeit, Care-Berufe, Ausgrenzungen aus einer vorgeblichen gesellschaftlichen Solidarität, etwa von Geflüchteten, und manchmal allgemein, prekäre Arbeitsverhältnisse.

+++ Hier sind nun einige Beispiele: Mehrere sehr kurze Texte gibt es auf dem Covid 19 – Center Blog des Cornelia Goethe Centrums, in denen es auch um 24-Stunden-Pflegekräfte in Haushalten geht (ein selteneres Thema), das L.MAG setzt sich mit negativen Auswirkungen auf die LGBTI*-Community auseinander, das feministische Streikkollektiv Zürich sucht eine feministische Antwort auf Corona und die Kapitalismuskrise (ebenfalls auf Englisch und Spanisch), ein langes Papier von e*vibes (Dresden) befasst sich ausführlicher mit einzelnen Backlash-Aspekten.

Banner: Ohne Care-Arbeit steht alles still
(Foto: feministisches Streikkollektiv Zürich)

Ebenfalls anderswo und in globalerem Maßstab verstärken die Pandemie-Auswirkungen (die sexismus-, neokolonialismus-, rassismus-, kapitalismusgemacht etc. sind; momentan verstärkt sich auch der Eindruck, das muss extra gesagt werden) rapide die Ungleichheiten innerhalb eines umfassenden Gefälles. Ausschlüsse aus Gesundheits- und anderen (über-)lebensnotwendigen Leistungen, zu denen hier doch viele (aber nicht alle) Zugang haben, rücken ins Licht.

„Nachlese(n): Care, Krise, Covid-19“ weiterlesen

für ein besseres Zweitausendzweiundzwanzig

(falls unklar ist, worum es sich handelt: Foto von grauem Karton/feministisches Symbol)

Mutlu yıllar ▪ un felice anno nuovo ▪ كل عام وأنتم بخير ▪ un an nou fericit ▪ честита Нова година ▪ bonne année ▪ καλή χρονιά ▪ happy new year ▪ un feliz año nuevo ▪ с Новым годом ▪ ein gutes neues Jahr!

Militärputsch im Sudan: Frauen*proteste und Repression

Im Sudan sind am vergangenen Sonntag Sicherheitskräfte (wieder einmal) brachial gegen die massiven Proteste vorgegangen, mit denen sich die Bevölkerung weiterhin gegen den im Oktober stattgefundenen Militärputsch wehrt. Das Datum dieses Sonntags – der 19. Dezember – gilt nicht nur als Jahrestag der „Dezemberrevolution“, die schließlich zum Sturz des diktatorischen Langzeitpräsidenten Omar al-Bashir führte (und in der Sudans Frauen* eine tragende Rolle spielten). Ebenfalls hatte Sudans Parlament am 19. Dezember 1955 die Unabhängigkeit von Großbritannien erklärt; die Beteiligung an den Demonstrationen am Sonntag ist (auch deswegen) enorm hoch gewesen.1Khalid Abdelaziz/Nafisa Eltahir: Hundreds of thousands march to Sudan presidential palace in protest against coup, Reuters, 20.12.2021, https://www.reuters.com/world/africa/security-forces-deploy-sudans-khartoum-against-planned-post-coup-protests-2021-12-19/.
Mitte 2019 hatten sich im Anschluss an al-Bashirs Absetzung der Militärrat und die sudanesische Opposition auf die Bildung einer gemeinsamen Übergangsregierung geeinigt, gegen deren zivile Mitglieder die Streitkräfte nun vor ungefähr drei Monaten geputscht haben, um die Macht im Sudan allein zu übernehmen. Nach darauffolgenden Massenprotesten mit Forderungen nach einer ausschließlich zivilen Regierung durfte zwar im November der zivile Regierungschef Abdalla Hamdok sein Amt wieder übernehmen. Andere Positionen waren jedoch bereits neu besetzt worden, wie es der Putschistengeneral für opportun hielt2Johannes Dietrich: Sudan: „Das ist eine Konterrevolution“, Frankfurter Rundschau, 12.11.2021, https://www.fr.de/politik/sudans-militaerchef-setzt-sich-an-spitze-von-uebergangsrat-91112828.html., und die Vereinbarung mit Hamdok wurde vielfach als Versuch gesehen, den Coup d’Etat zu legitimieren. Daher haben daraufhin nicht nur elf Minister*innen, die vor dem Putsch Teil der Übergangsregierung waren, demonstrativ ihren Rücktritt erklärt311 Sudan Ministers resign as ‘Hamdok agreement legitimises military coup regime’, Dabanga, 23.11.2021, https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/11-sudan-ministers-resign-as-hamdok-agreement-legitimises-military-coup-regime., sondern auch die Straßenproteste haben nicht aufgehört.

Auf ihrem Blog beschreibt die Initiative Sudanese Women Rights Action nun die Vorgänge am Sonntag und fordert (gemeinsam mit zwei weiteren Frauen*-Organisationen) eine unabhängige Untersuchung, insbesondere der sexualisierten Angriffe auf Protestbeteiligte.
„Tausende von Demonstrant*innen erreichten den Präsidentenpalast in Khartum und kündigten ein Sit-in an. Die vereinten Sicherheitskräfte begannen, Protestteilnehmer*innen vor dem Palast mit Tränengas, scharfer Munition und Schlagstöcken anzugreifen. Medizinisches Personal und Ambulanzen wurden daran gehindert, sich in Bewegung zu setzen, um verletzte Personen zu bergen, während Protestierende, besonders Frauen, von Bereitschaftspolizei und Reservestreitkräften festgesetzt wurden. Dutzende demonstrierender Frauen waren während des gewaltsamen Vorgehens Schlägen, sexuellen Belästigungen und Beschimpfungen ausgesetzt. Dutzende demonstrierender Frauen berichteten, dass sie von Männern in Polizei-, Militäruniform und Uniform der Rapid Support Forces verbal und sexuell angegriffen und ausgeplündert wurden. … Die Führung der Widerstandsbewegung seit der Revolution von 2018 durch die sudanesischen Frauen hat in den letzten drei Jahren auf festen Füßen gestanden. Diese systemischen Angriffe durch Kräfte der Regierung gegen weibliche Protestierende haben das Ziel, Frauen daran zu hindern, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen. …“
Auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat mittlerweile eine Untersuchung der dreizehn bekannt gewordenen Vergewaltigungen und anderen Gewaltakte von Sonntag gefordert, die zudem zur Tötung von zwei Personen und etwa 300 Verletzten geführt haben.4Sudan protests: UN High Commissioner decries reports of rape, harassment, Dabanga, 21.12.2021, https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/sudan-protests-un-high-commissioner-decries-reports-of-rape-harassment; Emma Farge (Genf)/Nafisa Eltahir/Khalid Abdelaziz (Khartum): UN reports 13 rape allegations during Sudan protests, Reuters, 21.12.2012, https://www.reuters.com/world/africa/un-reports-13-rape-allegations-during-sudan-protests-2021-12-21/html.

„Militärputsch im Sudan: Frauen*proteste und Repression“ weiterlesen

Noch Ergänzungen und Links

… zum vorhergehenden Beitrag, weil es doch sehr eigenartig war, über die Verfolgung der Dortmunder Sinti*ze und Rom*nja in der NS-Zeit online nichts zu finden – sonst ist das Netz allgemein genutzte Veröffentlichungsmöglichkeit und Informationsquelle, wenn auch nicht immer die zuverlässigste – und offline, also auf Papier, lediglich den (woanders als Buchkapitel verdoppelten) Beitrag zu der Ausstellung Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945.1Günther Högl (Hrsg.): Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945. Katalog zur ständigen Ausstellung des Stadtarchivs Dortmund in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, Dortmund 2002. Also wenig, über 75 Jahre! danach, in denen Vorurteile, Stigmatisierung und Ausschluss (inkl. polizeilicher und rassistischer Erfassungsakten) oft unverändert übernommen wurden. Dadurch ist offensichtlich nicht nur eine frühere Anerkennung des Genozids, sondern auch eine umfassende Erforschung und Aufarbeitung der Verbrechen gegen Sinti*ze und Rom*nja verhindert worden.
Noch ein wenig genauer beleuchten lässt sich aber durch ein Buchprojekt über die NS-Kriminalpolizei Düsseldorf2Bastian Fleermann (Hrsg.): Die Kommissare. Kriminalpolizei in Düsseldorf und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1920-1950), Düsseldorf 2018. die Position der Kriminalpolizeistelle Dortmund, die z. B. 1942 schon vor dem sogenannten Auschwitz-Erlass mit Gemeinden/Bezirken aus ihrem Zuständigkeitsbereich Pläne für eine „Umsiedlung“ bzw. Deportation von Sinti*ze und Rom*nja schmiedete3Dr. Karola Fings: Gutachten zum Schnellbrief des ReichssicherheitshauptamtesTgb. Nr. RKPA. 149/1939 -g-vom 17.10.1939 betr.Zigeunererfassung“ („Festsetzungserlass“), Köln, Januar 2018, S. 9, https://zentralrat.sintiundroma.de/download/11145. oder auch bei der Deportation aus Berleburg 1943 (im vorherigen Beitrag erwähnt) mitmischte.

In das NS-Regime war die Kriminalpolizei – in Kriminalpolizeileitstellen und Kriminalpolizeistellen organisiert, von denen sich eine in Dortmund befand – als Organ eingebunden, das angebliche „Gewohnheitsverbrecher*innen“, „Arbeitsscheue“, Obdachlose, Wanderarbeiter*innen, Homosexuelle, Sexarbeiter*innen oder Sinti*ze und Rom*nja verfolgte. Das heißt, die Kriminalpolizei war eine entscheidende Stelle (unter anderem) für die Porajmos-Umsetzung.
Der Kriminalpolizei Dortmund war die Kriminalpolizeileitstelle in Düsseldorf übergeordnet, deren Zuständigkeitgebiete das nördliche Rheinland sowie die gesamte Provinz Westfalen abdeckten; in ihrem Einzugsgebiet lebten neun Millionen Menschen. Der Bereich der Dortmunder Kriminalpolizei umfasste davon wiederum den südlichen Teil des damaligen Regierungsbezirks Minden (d. h. von Ostwestfalen), den Regierungsbezirk Arnsberg ohne den Ennepe-Ruhr-Kreis und mehrere Stadtkreise.4Nach: Bastian Fleermann: Die NS-Zeit 1933-1938. Die Düsseldorfer Polizei im Nationalsozialismus, in: Bastian Fleermann (Hrsg.): Die Kommissare. Kriminalpolizei in Düsseldorf und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1920-1950), Düsseldorf 2018, S. 108 ff.

„Noch Ergänzungen und Links“ weiterlesen

Gewonnen in Mexiko, aber nicht in den USA

In den weltweiten Auseinandersetzungen um das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper (bei Schwangerschaften und Abtreibungen, aber nicht bloß da, gern verweigert) hat Anfang September Mexikos Oberster Gerichtshof die Kriminalisierung von Abtreibungen für verfassungswidrig erklärt. Dem Urteil zufolge dürfen Abtreibungen im Schwangerschafts-Frühstadium und bei Vergewaltigung, Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren oder lebensunfähigem Fötus nicht unter Strafe gestellt werden.1Christian Stör: Jahrelanger Kampf: „Historischer Tag“: Gericht in Mexiko entkriminalisiert Abtreibung, Frankfurter Rundschau, 08.09.2021, https://www.fr.de/politik/mexiko-abtreibungen-oberstes-gericht-entkriminalisiert-schwangerschaf-abbruch-zr-90968005.html. Feministinnen* in Mexiko feierten das Urteil, mit dem „unser langer Kampf nun Früchte trägt“. Die Geschäftsführerin der feministischen Organisation GIRE (Grupo de Información en Reproducción Elegida) kündigte eine Prozesswelle an „gegen alle, die eine legale und sichere Abtreibung weiter verhindern“.2Sandra Weiss: Mexikos oberste Richter brechen eine Lanze für Abtreibung, Neue Zürcher Zeitung, 08.09.2021, https://www.nzz.ch/international/mexiko-entkriminalisiert-abtreibung-ld.1644432. Denn auch wenn es sich um ein Grundsatzurteil handelt, betrifft es zurzeit lediglich Mexikos Teilstaat Coahuila, in dem für eine Abtreibung oder Beihilfe dazu gesetzlich bis zu drei Jahre Haft vorgesehen waren. Gegen andere Teilstaaten müssen weitere Verfahren angestrengt werden, um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch allgemein durchzusetzen.

„Gewonnen in Mexiko, aber nicht in den USA“ weiterlesen