Wegen Papierfliegern vor Gericht

Bereits im Sommer 2018 fand in Nürnberg an der Zentrale des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Kundgebung statt, die in Zusammenhang mit einer Bustour der Gruppe Women in Exile & Friends von einer Aktivistin* des 8. März Bündnisses Nürnberg angemeldet worden war. Die Anmelderin* dieser Kundgebung stand nun letzten Freitag vor Gericht, weil sie den beteiligten geflüchteten Frauen* und Kindern nicht verboten hatte, Forderungen auf Papierfliegern an das Bundesamt zu richten. Die aus Papier, hauptsächlich im Din-A4-Format, gefalteten Flugzeuge hatten politische Forderungen wie „Stop deportation“, „Wir fordern gleiche Rechte“, „Lager abschaffen – Wohnraum für alle“ oder Kinderwünsche wie „Ich will ein eigenes Kinderzimmer und Lego zum Spielen“ über den Zaun getragen. Es sollen 50 Flieger gewesen sein.1Siehe unter anderem: PM „Women breaking borders“: Gerichtsprozess wegen Papierflieger über Zaun des BAMF, https://www.women-in-exile.net/pm-women-breaking-borders-gerichtsprozess-wegen-papierflieger-ueber-zaun-des-bamf/.

Papierflieger

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, an dem die Kundgebung stattfand und das unter anderem die Asylverfahren durchführt, ist in den letzten Jahren allerdings wiederholt in die Schlagzeilen geraten. Noch vor kurzem war nach der Verhaftung eines Kooperationsanwalts der deutschen Botschaft in der Türkei bekannt geworden, dass der Anwalt, dem nun „Spionage“ vorgeworfen wird, dort für eben dieses Bundesamt Informationen eingeholt hatte. Die Zahl der Asylsuchenden, deren sensible persönliche Daten aus (teilweise laufenden) Asylverfahren dadurch der türkischen Regierung bzw. dem Geheimdienst in die Hände gefallen sind, sei gering, hieß es zunächst. Mittlerweile ist die Rede von mehreren Hundert, in der türkischen Presse sogar von Akten von bis zu 2.500 Personen, die durch diese dubiose Bundesamtspraxis das Fluchtland erhalten hat.2Elisabeth Kimmerle: Vertrauensanwalt in der Türkei verhaftet. Riskante Recherchen, die tageszeitung, 03.12.2019, https://taz.de/Vertrauensanwalt-in-der-Tuerkei-verhaftet/!5647076/; Frank Nordhausen: Asylsuchende in Deutschland. Ausgespäht und in Gefahr, Frankfurter Rundschau, 08.12.19, https://www.fr.de/politik/ausgespaeht-gefahr-13279900.html; Elmas Topcu: Kooperationsanwalt: Besuch aus der deutschen Botschaft, Deutsche Welle, 15.12.2019, https://www.dw.com/de/deutsche-botschaftsvertreter-in-ankara-besuchten-kooperationsanwalt-in-haft/a-51677914.

Dabei ist das Problem im Grunde genommen der „Asylverfahren“ genannte Auswahlprozess, in dem eine Anhörung beim BAMF die Basis ist, um als Geflüchtete_r anerkannt oder abgelehnt zu werden: Hier müssen Fluchtgründe „glaubwürdig“, möglichst „detailliert“ und „widerspruchsfrei“ geschildert werden (was heißt, traumatisierende Situationen einer unbekannten Person im Einzelnen zu beschreiben oder die sexuelle Orientierung glaubhaft zu machen). Noch verschärft haben sich diese Verhältnisse zB. durch die Einführung von Schnellverfahren (insbesondere für geflüchtete Roma) oder die Personalpolitik der Behörde, um offene Asylanträge „abzubauen“.

Mitte 2017 meldeten die Nürnberger Nachrichten, einem internen Bericht zufolge seien „Hunderte Entscheider des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge … nicht qualifiziert“. Bei den Mitarbeiter_innen des Asylverfahrenssekretariats, die unter anderem Anträge annehmen und Dokumente prüfen, sei die Quote  „noch verheerender“, „80 Prozent – haben ‚keine Qualifizierungsmaßnahmen erhalten‘ “.3Franziska Holzschuh: Exklusiv: Hunderte Bamf-Entscheider nicht qualifiziert, Nürnberger Nachrichten, 03.06.2017, https://www.nordbayern.de/politik/exklusiv-hunderte-bamf-entscheider-nicht-qualifiziert-1.6204830. Sowohl die WirtschaftsWoche als auch der Münchener Merkur berichteten 2018, erforderliche Schulungen von Mitarbeiter_innen würden weiterhin verschoben, um Zahlenvorgaben zu erreichen. Unter anderem ging es um die Bundesamtsaußenstelle, die sich in Dortmund befindet: „Als dann jedoch die Zahlen, also das Tages-Soll, von getroffenen Entscheidungen nicht stimmten, wurden Schulungen abgeblasen, um diese Zielvorgaben zu erreichen. Erst wenn die Entscheider ihre Produktion erhöhen würden, könnten Schulungen durchgeführt werden.“4Niklas Dummer: Eine Behörde arbeitet für die Statistik, WirtschaftsWoche, 4 Februar 2018 https://www.wiwo.de/politik/deutschland/bundesamt-fuer-migration-und-fluechtlinge-bis-ende-des-jahres-die-zahl-der-anhaengigen-verfahren-halbieren/20921306-3.html; Maximilian Kettenbach: „Das ist verantwortungslos…“: Bamf-Mitarbeiter nennt massive Wissenslücken bei Asyl-Entscheidern, Merkur, 17.07.18, https://www.merkur.de/politik/bamf-skandal-ist-verantwortungslos-bamf-mitarbeiter-nennt-massive-wissensluecken-bei-asyl-entscheidern-9953429.html.

Für Geflüchtete können selbstverständlich (nicht nur, aber auch) die hier kritisierten „massiven Wissenslücken“ der Asyl-Entscheider_innen existenzbedrohende Folgen haben.

Aber zurück zum Prozess um die beschrifteten Flieger an der Bundesamtszentrale in Nürnberg, in dem der Versammlungsleiterin* nun ein Verstoß gegen das bayerische Versammlungsgesetz vorgeworfen wird, weil sie einer polizeilichen Anweisung nicht Folge geleistet habe. Da die Wahrheitsfindung manchmal länger dauert, wurde das Gerichtsverfahren auf den 3. Januar vertagt, um einen weiteren Zeugen zu hören und erst danach ein Urteil zu fällen. Nicht nur die Süddeutsche Zeitung hat sich schon im Vorfeld gefragt, ob es sich bei dem Papierflieger-Prozess nicht eigentlich um eine Justizposse handele. 5Olaf Przybilla: Prozess in Nürnberg: Per Papierflieger in den Gerichtssaal, Süddeutsche Zeitung, 10.12.2019, https://www.sueddeutsche.de/bayern/nuernberg-prozess-wegen-papierfliegern-fuer-frauenrechte-1.4717379. Über alles lachen lässt sich jedoch nur bedingt.

Nachtrag (04.01.2020)
Fliegende Botschaften werden hier nicht geduldet. Die Angeklagte ist nun tatsächlich zu einer Geldstrafe von 300 € verurteilt worden, die allerdings zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zusätzlich erhielt sie die Auflage, 350 € an ein Frauenhaus zu zahlen.

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