Bundesfamilienministerin Schröder stellte vor etwa zwei Wochen eine von ihr in Auftrag gegebene Studie mit dem Titel „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“ vor und überreichte sie öffentlich der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung. Danach gerieten einmal wieder Migrantinnen*/Frauen* postmigrantischer Generationen als Opfer traditions- oder religiös bedingter Gewalt in den Fokus der Medienaufmerksamkeit.
Was in der Presse stand. „Studie: Tausende Zwangsheiraten“, „Mehr als 3.000 Frauen werden jährlich in Deutschland zwangsverheiratet“, „Tausende Migrantinnen werden zur Ehe gezwungen“, „in Deutschland tausendfach praktiziert“.1 Studie: Tausende Zwangsheiraten (AFP/jW). Junge Welt, 11.11.2011, http://www.jungewelt.de/2011/11-11/008.php; Tausende Frauen werden jährlich zur Ehe gezwungen (Zeit Online, AFP, dpa), Zeit Online, 09.11.2011, http://www.zeit.de/gesellschaft/2011-11/zwangsehe-studie-migrantinnen; Studie: Tausende Migrantinnen werden zur Ehe gezwungen (anr/dpa). Spiegel Online, 09.11.2011, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,796673,00.html; Katja Tichomirowa: Erzwungenes Eheglück. Frankfurter Rundschau, 10.11.2011.
Bundesweit scheint die Presse Aussagen (re-)produziert zu haben, die in der Studie nicht stehen.
Wenn die Studie eines nicht enthält, dann sind es Zahlenangaben über Zwangsverheiratungen. Sie enthält – das stellt die im Internet zu findende Kurzfassung2 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen. Kurzfassung, Stand: 28.03.2011, http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Zwangsverheiratung-in-Deutschland-Anzahl-und-Analyse-von-Beratungsf_C3_A4llen,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf. (wo ist die Langfassung?) gleich mehrmals klar – Angaben über Beratungen zu dem Thema.
Der Wert von 3.443 Beratungsfällen stellt gewissermaßen eine „Bruttogröße“ dar: Die Anzahl bezieht sich zunächst nur auf Angaben aus Beratungs- und Schutzeinrichtungen zu der Frage, wie viele Personen sich dort im Jahr 2008 zu dem Thema Zwangsverheiratung beraten ließen. … In den erfassten Fällen sind auch in einem bestimmten Umfang Mehrfachzählungen enthalten. Je nach Art der Beratungseinrichtungen liegt der Anteil derjenigen, die mehrere Einrichtungen aufsuchten, schätzungsweise zwischen 14 und 43 %.3Bundesministerium für Familie, a.a.O., S. 22 bzw. S. 7.
Weiterhin findet sich in den Medien häufiger der Satz: „Fast zwei Drittel der erfassten Fälle stammen aus stark religiös geprägten Familien.“4Unter anderem Roland Preuß: Zwangsehen in Deutschland. Zum Jawort genötigt. Süddeutsche Zeitung, 09.11.2011, http://www.sueddeutsche.de/politik/zwangsehen-in-deutschland-zum-ja-wort-genoetigt-1.1184418. Die Studie sagt allerdings über den Zusammenhang mit Religiosität ausdrücklich anderes, abgesehen davon, dass überhaupt nur für ungefähr 60 % der Fälle Angaben zu einer (angenommenen) Religionszugehörigkeit gemacht wurden:
Die Religionszugehörigkeit wurde überwiegend als „leere Variable“ bezeichnet, die sich ohne Vergleichszahlen und ohne zusätzliches Wissen über die tatsächlich praktizierte Religiosität nicht interpretieren lasse. … Mit der gewählten Methode und anhand der Datenlage konnte und sollte also nicht überprüft werden, ob und welche Zusammenhänge die Religionszugehörigkeit/Religiosität mit Zwangsverheiratung hat.5Bundesministerium für Familie, a.a.O., S. 34 und S. 36.
Bei einem überwiegenden Teil der Beratungen bleiben die Folgen – entgegen den in der Presse verbreiteten jährlichen Opferzahlen – zudem offen; mit Betroffenen ist nicht weiter gesprochen worden, auch nicht im Rahmen der Studie.
In 60 % der Fälle war die Zwangsverheiratung angedroht und noch nicht vollzogen. Mit den bereits verheirateten Personen sind auch diejenigen erfasst, deren Eheschließung bereits vor längerer Zeit erfolgte. … Bei der durchgeführten Falldokumentation lag der anteilige Wert der angedrohten Zwangsverheiratungen sogar bei 71 % und somit deutlich höher.6Bundesministerium für Familie, a.a.O., S. 24 und S. 23.
Immer wieder: die Gewalt der Anderen
Ein sorgfältigerer Blick wäre wahrhaftig keine Relativierung von Gewalt. Und selbstverständlich sollten sich Betroffene (auch mehrfach) beraten und unterstützen lassen können: Im Allgemeinen sind entsprechende Strukturen allerdings seit Jahren eher von Kürzungen bedroht oder betroffen.7 Zu aktuellen Kürzungen finden sich etwa Stellungnahmen auf der Website der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF), http://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/. Der öffentliche Sensationsdiskurs und die Projektion von Gewalt auf eine Bevölkerungsgruppe vereinnahmen aber die Frauen als Opfer, um sie als anders auszuschließen, statt ihnen beizustehen. Getrennt von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die soziale Ungleichheiten und Diskriminierung hervorbringen, wird so mit der identitätsstiftenden Wirkung der Reklamierung einer exklusiven „westlichen Wertegemeinschaft“ lediglich ein anschlussfähiger Konsens über „eigene emanzipierte“ Geschlechterverhältnisse erzeugt.
„Frau Schöder schafft es hier erneut (wie bei der Debatte um die vermeintliche ‚Deutschenfeindlichkeit’)“, stellt die Gruppe reclaim society in einer Pressemitteilung fest, „ein weißes, deutsches, christliches, aufgeklärtes ‚wir’ zu konstruieren und Probleme dieser patriarchalen Gesellschaft (wie Sexismus und Gewalt gegen Frauen) als spezifisches Problem der ‚anderen’, vermeintlich muslimischen ‚Migrant_innen’ darzustellen. So beweist die Studie ‚Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland’ des selben Ministeriums, dass es sich bei der Problematik von Gewalt gegen Frauen sehr wohl um ein Problem aller sozioökonomischen Schichten und Religionen handelt.“8Pressemitteilung von reclaim society: Studie zu Zwangverheiratung in Deutschland von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU), 11.11.2011, http://reclaimsociety.wordpress.com/2011/11/20/pressemitteilung-von-reclaim-society/.
Dies gelingt allerdings nicht nur Bundesministerin Schröder. Die Organisation Terre de Femmes spricht im Zusammenhang mit der Studie über Zwangsheiraten auf ihrer Website tatsächlich davon, dass „die Betroffenen vermeintlich gut integriert sind“9Terre de Femmes: Erste bundesweite Studie zu Zwangsverheiratung in Deutschland: TERRE DES FEMMES fordert nun Taten von der Politik, http://frauenrechte.de/online/index.php/themen/gewalt-im-namen-der-ehre/aktuelles/827-erste-bundesweite-studie-zu-zwangsverheiratung-in-deutschland-terre-des-femmes-fordert-nun-taten-von-der-politik.html.. Aber eben nur „vermeintlich“: Gewalt (gegenüber allen Geschlechtern, die Studie etwa betrifft ebenfalls Jungen und Männer) ist offenbar nicht mehr in gesellschaftlichen Strukturen angelegt, sondern in ‚mangelnder Integration’.
In den Kontext positiver Eigendarstellung fügt sich in den Medien auch die vielfache Erwähnung eines „Rückkehrrechts“ für Opfer von Zwangsverheiratungen ein, das mit dem im Sommer in Kraft getretenen „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat“ geschaffen worden sei. Von einem „Recht“ auf eine Rückkehr nach Deutschland nach einer Zwangsheirat kann jedoch aufgrund der Voraussetzungen, die der Gesetzestext dafür zugrunde legt, tatsächlich keine Rede sein. Und schließlich eröffnen restriktiver gewordene Migrationskontrollen und Aufenthaltsbestimmungen häufig nur den Weg der Heiratsmigration.
So sagt letztlich das ausgiebig nacherzählte Klischee der Migrantin als Opfer ihrer „Rückständigkeit“ einiges über die „westlich-emanzipierte“ Gesellschaft, deren Hierarchien einmal mehr über solche Deutungsmuster reproduziert werden. Aber Sorgfalt? Differenzierte Darstellung? Oder kritische Rezeption? Nach allgemeiner Ansicht sind diese (und die Folgen?) hier wohl keinesfalls von Interesse.