Gesetzliche Körperbeherrschung

Vor 150 Jahren, am 15. Mai 1871, wurde mit dem Paragrafen 218, der den Schwangerschaftsabbruch regelt, ein Abtreibungsverbot im Strafgesetzbuch verankert. Wurde die Beendigung ungewollter Schwangerschaften anfangs ausnahmslos mit fünf Jahren Zuchthaus kriminalisiert, ist der Abbruch heute immer noch rechtswidrig, bleibt aber nach entsprechender Beratung straffrei.1Abrisse der Entwicklung des Paragrafen § 218: Gisela Notz: 150 Jahre § 218 im Strafgesetzbuch, Lunapark21, 13.04.2021, https://www.lunapark21.net/150-jahre-218-im-strafgesetzbuch/; Christian Rath: 150 Jahre Paragraf 218: Der Bauch, das Politikum, die tageszeitung, 15.05.2021, https://taz.de/150-Jahre-Paragraf-218/!5772469/.
Die Kontrolle über die weibliche Reproduktionsfähigkeit und darin über die Reproduktion einer angenommenen „Gemeinschaft“ (der Nation) ist eng mit konservativ-tradierten geschlechtlichen Rollenvorstellungen und deren Zuschreibungen („Mütterlichkeit“) verbunden. Eine sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung („ob Kinder oder keine / entscheiden wir alleine“) wird in diesem Zusammenhang als (moralisch) bedrohliche Abweichung betrachtet; dies gilt ebenso für andere Infragestellungen behaupteter geschlechts- und familienbezogener Norm(alität)en. Gern wird dann die Gefahr einer quasi-automatischen weiteren „Ausbreitung“ hinaufbeschworen, als würden solche Entscheidungen ohne eigene gründliche Abwägungen aufgrund von „Werbung“ (sprich: Informationen darüber) getroffen.

Hierzulande sind außerdem die Zugangsmöglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch vom Wohnort abhängig, weil die ärztliche Versorgungslage in den Regionen unterschiedlich ist, und von der Kostenübernahme, weil Abbrüche keine Regelleistungen der Krankenkassen darstellen. Mittellose Frauen* müssen daher ihre Bedürftigkeit nachweisen – die Einkommensgrenze liegt momentan bei 1.258 Euro netto – , eventuelle sexistische oder rassistische Stigmatisierungen inklusive. Aus Anlass dieses Jubiläums fanden deshalb am Wochenende in über 40 Städten Proteste mit der Forderung nach Streichung des Paragrafen statt.2Verbot von Abtreibungen. Bundesweit Proteste gegen Paragraf 218, Tagesschau, 15.05.2021, https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/deutschland-proteste-paragraf-218-101.html.
Eine reproduktive Selbstbestimmung dreht sich jedoch nicht ausschließlich um Abtreibungen: Denn darüber hinaus wird bestimmten Frauen* – wie geflüchteten oder papierlosen – eine umfassende Schwangerschaftsvorsorge und die Möglichkeit eines selbstbestimmten Gebärens hier vorenthalten, da ihr Zugang zu den angebotenen Gesundheitsleistungen eingeschränkt ist. Personen, die in einer aufenthaltsrechtlichen Illegalisierung leben, sind zudem bei Beantragungen von Kostenübernahmen davon bedroht, von den Sozialämtern gemeldet und dann abgeschoben zu werden.3Die Kampagne Gleichbehandeln fordert eine Einschränkung dieser Übermittlungspflicht bezogen auf die medizinische Versorgung: https://gleichbehandeln.de/.

Gegen solche Diskriminierungen prägte die US-amerikanische Organisation SisterSong Women of Color Reproductive Justice Collective den Begriff reproductive justice (reproduktive Gerechtigkeit), der soziale Gerechtigkeit einschließt und Abtreibungen ebenso wie Geburten oder das Aufwachsen in sicheren Communities thematisiert.4What is Reproductive Justice: https://www.sistersong.net/reproductive-justice Indigene Frauen* und Women* of Color kämpften und kämpfen für ihre Kinder und ein Familienleben, gegen Zwangssterilisationen und Trennungen, gegen Armutsverhältnisse und Polizeigewalt. Auch LGBTI-Personen werden weiterhin häufig (in der US-Gesellschaft ebenso wie hier) nicht als „richtige“ Eltern gesehen. „Wir fordern das bedingungslose Recht auf körperliche Selbstbestimmung für alle und kämpfen für eine Welt, in der Menschen selbst entscheiden können, ob und wie sie Kinder kriegen wollen“, erklärte dementsprechend letzten Samstag eine Rednerin bei der §-218-Demonstration in Köln.5Andi Goral: 150 Jahre §218 – Kölner*innen demonstrieren gegen das Verbot der Abtreibung, report-K, 15.05.2021, https://www.report-k.de/Koeln-Nachrichten/Koeln-Nachrichten/150-Jahre-218-Koelner-innen-demonstrieren-gegen-das-Verbot-der-Abtreibung-144595.

Um die „richtige“ Reproduktion (hier die symbolische) der Gemeinschaft (der Nation) geht es jedoch auch bei einem Gesetz zur äußeren Erscheinung von Beamt*innen, das kürzlich (relativ unbemerkt) den Bundesrat passiert hat. Dem Gesetz vorausgegangen war ein Urteil zu einem Berliner Polizisten, der wegen eines Nazi-Tattoos entlassen wurde – und nach dem das Bundesverfassungsgericht eine eindeutige gesetzliche Regelung gefordert hatte; nun kann aber nach dem neuen Gesetz ebenfalls das „Tragen religiöser Merkmale“ untersagt werden. „Davon auszugehen, dass religiöse Menschen pauschal nicht in der Lage seien, objektive Urteile zu fällen, trieft von antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus und Misogynie. Hier liegt die übliche patriarchale Haltung zugrunde, die den weißen Mann als Normalzustand definiert, der per se als ‚neutral‘ und ‚objektiv‘ gilt“, kommentiert der Blog Der Hase im Pfeffer die Gesetzgebung.6Angriff auf die Selbstbestimmung, Der Hase im Pfeffer, 09.05.2021, https://feminismuss.de/angriff-auf-die-selbstbestimmung/. Das gilt nun wohl für beide Rechtsvorschriften.

Eine Antwort auf „Gesetzliche Körperbeherrschung“

  1. Wie kann das beim Thema Recht und Selbstbestimmung vergessen werden?
    #SelbstbestimmungJetzt – TSG abschaffen: https://www.change.org/p/selbstbestimmungjetzt-tsgabschaffen

    Trans Personen müssen – immer noch – eine langwierige und kostspielige Prozedur über sich ergehen lassen. Noch immer bedarf es zweier psychologischen Gutachten und eines „Beweises“ vor Gericht, um zu zeigen, dass wir tatsächlich trans* sind. Das sogenannte TSG („Transsexuellengesetz“) ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch unnötig. Das Gesetz unterliegt der Logik von „Fremdbestimmung“ und schreibt Pathologisierung fort. …

    Und auch in Dortmund:
    19.05., 17:30 Uhr Reinoldikirche
    https://twitter.com/TransActionDort/status/1393667394938277890

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