Gewonnen in Mexiko, aber nicht in den USA

In den weltweiten Auseinandersetzungen um das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper (bei Schwangerschaften und Abtreibungen, aber nicht bloß da, gern verweigert) hat Anfang September Mexikos Oberster Gerichtshof die Kriminalisierung von Abtreibungen für verfassungswidrig erklärt. Dem Urteil zufolge dürfen Abtreibungen im Schwangerschafts-Frühstadium und bei Vergewaltigung, Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren oder lebensunfähigem Fötus nicht unter Strafe gestellt werden.1Christian Stör: Jahrelanger Kampf: „Historischer Tag“: Gericht in Mexiko entkriminalisiert Abtreibung, Frankfurter Rundschau, 08.09.2021, https://www.fr.de/politik/mexiko-abtreibungen-oberstes-gericht-entkriminalisiert-schwangerschaf-abbruch-zr-90968005.html. Feministinnen* in Mexiko feierten das Urteil, mit dem „unser langer Kampf nun Früchte trägt“. Die Geschäftsführerin der feministischen Organisation GIRE (Grupo de Información en Reproducción Elegida) kündigte eine Prozesswelle an „gegen alle, die eine legale und sichere Abtreibung weiter verhindern“.2Sandra Weiss: Mexikos oberste Richter brechen eine Lanze für Abtreibung, Neue Zürcher Zeitung, 08.09.2021, https://www.nzz.ch/international/mexiko-entkriminalisiert-abtreibung-ld.1644432. Denn auch wenn es sich um ein Grundsatzurteil handelt, betrifft es zurzeit lediglich Mexikos Teilstaat Coahuila, in dem für eine Abtreibung oder Beihilfe dazu gesetzlich bis zu drei Jahre Haft vorgesehen waren. Gegen andere Teilstaaten müssen weitere Verfahren angestrengt werden, um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch allgemein durchzusetzen.

Im US-Bundesstaat Texas ist dagegen am 1. September ein Gesetz in Kraft getreten, dass den Schwangerschaftsabbruch ab dem Zeitpunkt, an dem der erste Herzschlag festzustellen ist (etwa der sechsten Woche, wenn die Schwangerschaft höchstens eben erkannt ist) kriminalisiert und daher eigentlich ein vollkommenes Abtreibungsverbot verhängt; Ausnahmen sind nur bei Lebensgefahr für die Schwangere, aber z. B. nicht bei Vergewaltigung möglich. Für die Umsetzung setzt Texas auf die Denunziation durch Bürger*innen, die nun aufgerufen sind, Arzt*innen, Pfleger*innen oder sogar Taxifahrer*innen, die eine Schwangere zum Abbruch fahren, wegen Beihilfe zu verklagen. Die Kläger*innen erhalten im Erfolgsfall, also bei Verurteilung, mindestens 10.000 US-Dollar, die von den Verurteilten zu zahlen sind. Das Gesetz dient mit den hohen Geldstrafen primär der Einschüchterung und führt so zum Ziel, ohne dass tatsächliche Klagen notwendig sind.3Meret Baumann: So umgeht Texas das nationale Abtreibungsrecht, Neue Zürcher Zeitung, 11.09.2021.
Die von dem Gesetz Betroffenen können es sich auch häufig nicht leisten, für eine Abtreibung in einen benachbarten Bundesstaat zu reisen, sagt die Gynäkologin Serina Floyd: „75 Prozent der Abtreibungspatientinnen haben kaum genug Geld, um ihre Miete zu zahlen. Viele von ihnen haben schon mindestens ein Kind zu Hause. Manche von ihnen müssten nun Hunderte Meilen reisen, um abtreiben zu lassen.“4Amrai Coen: Schwangerschaftsabbrüche in Texas: „Als Ärzte sind wir hilflos“ (Interview mit der Gynäkologin Serina Floyd), Die Zeit, 08.09.2021, https://www.zeit.de/2021/37/schwangerschaftsabbrueche-texas-usa-gesetz-frauenrechte-herzschlag-gynaekologin
Die Folgen sind in Texas also bereits greifbar und dass, obwohl ein Grundsatzurteil des Supreme Court der USA von 1973, bekannt als „Roe versus Wade“, Abtreibungen eigentlich landesweit legalisiert hat. Einen Eilantrag, das Gesetz sofort zu blockieren, hat das Oberste Gericht jedoch abgelehnt. Die endgültige Entscheidung des Gerichts, seit der Trump-Präsidentschaft durch die derzeit Berufenen mit einer konservativen Mehrheit besetzt, steht aber noch aus und scheint offen zu sein.

Übrigens erzählt auch der Film, der gerade in Italien bei den Filmfestspielen in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hat, von einem Schwangerschaftsabbruch unter Umständen der Strafbarkeit. Die Regisseurin Audrey Diwan hat ihn für ihre Adaption des Romans Das Ereignis der französischen Autorin Annie Ernaux erhalten. Die mittlerweile 81-Jährige ist eine unermüdliche Chronistin des Zeitgeschehens, das sie in autobiografischen Romanen verarbeitet. Das Buch (und nun auch der Film) schildert die Odyssee einer ungewollt schwanger Gewordenen Anfang der 1960er Jahren, als in Frankreich die Abtreibung illegal war.5Franziska Wolffheim: „Das Ereignisvon Annie Ernaux. Fluch der Einsamkeit, Der Tagesspiegel, 18.09.2021, https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-ereignis-von-annie-ernaux-fluch-der-einsamkeit/27604050.html Im Interview erklärt die Schriftstellerin, es sei heute nicht mehr vorstellbar, „wie das war, als es verboten war und kein Arzt einem helfen wollte. Ich hatte wirklich den Eindruck, als würde sich eine Betonwand vor mir erheben, als sei hier Schluss.“6Annabelle Hirsch: Annie Ernaux über „Das Ereignis“: Natürlich, es ist der Körper!, FAZ, 12.09.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/gespraech-mit-der-annie-ernaux-ueber-das-ereignis-17528678.html.
Aber weil die Selbstbestimmung über den Körper (auch in den europäischen Ländern) ein umkämpftes Feld bleibt, sind Buch und Film tatsächlich sehr aktuell.

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