Etwa ein Jahr nach dem schweren Erdbeben in Haiti, bei dem nach Schätzungen zwischen 1,3 bis zwei Millionen Menschen obdachlos wurden, sind Frauen und Mädchen in den provisorischen Zeltlagern des Landes immer noch verstärkt sexualisierter Gewalt ausgesetzt.
Aber Nachbarschaftspatrouillen und Schulungen seien nicht die einzige Lösung, sagt Jocie Philistin von der Organisation KOFAVIV, die seitdem versucht, sexuelle Übergriffe zu verhindern. „Gewalt hat zwei Aspekte – der eine ist die Armut, das heißt, er ist ökonomisch. Der andere ist die Politik.“ Immer wenn Unruhen ausbrechen oder sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, nimmt die Gewalt gegen Frauen zu, und sexualisierte Gewalt ist auch in Haiti als politische Waffe eingesetzt worden.
Die Organisation KOFAFIV, ein Akronym für Komisyon Fanm Viktim Pou Viktim (Frauenkommission Opfer für Opfer), wurde 2004 von Frauen aus armen Vierteln gegründet, die während der Militärdiktatur zwischen 1991 und 1994 vergewaltigt worden waren. In Abwesenheit eines offiziellen Versuchs, die Zahl der nach dem Erdbeben vergewaltigten Frauen und Mädchen zu ermitteln, führte die Organisation eine eigene Liste. Zwei Monate später hatte KOFAVIV 230 Vergewaltigungen in nur 15 Lagern gezählt; mindestens 1.300 Lager sollen in Haiti entstanden sein. Das Alter der Vergewaltigten reichte von 10 bis 60 Jahre, die meisten waren Jugendliche.
Bereits im Juli 2010 veröffentlichten mehrere Organisationen einen Bericht über die katastrophale Situation in den provisorischen Zeltstädten und die damit verbundene sexualisierte Gewalt. In einigen Lagern hatten Basisorganisationen wie KOFAVIV Freiwilligenpatrouillen eingerichtet, die nachts Frauen zu den Toiletten oder Duschen begleiteten.
Vor einigen Tagen schloss sich dann amnesty international mit einem eigenen Bericht an, dessen Tenor sich allerdings von dem vorherigen nicht wesentlich unterscheidet. Immer noch seien die medizinischen und hygienischen Verhältnisse in den Lagern erschreckend; Frauen und Mädchen seien gezwungen, sich in der Öffentlichkeit zu waschen oder nachts lange Wege zu den Gemeinschaftstoiletten zurückzulegen. Durch den vollkommenen Mangel an Privatsphäre, Beleuchtung oder stabilen Barrieren seien Mädchen und Frauen den – meistens nächtlichen – sexuellen Übergriffen ungeschützt ausgesetzt.
„In den Lagern, in den Gemeinschaften sind die Dinge schlimmer geworden“, sagt Jocie Philistin. „Wir haben einen vollkommen abwesenden Staat, wir haben NGOs, die hauptsächlich aus Public-Relations-Gründen in den Lagern sind und denen nicht einmal erlaubt wird, in den Gebieten der ‚roten Zone’ zu arbeiten, die die gefährlichsten Stadtviertel sind.“
Eramithe Delva, eine der Gründerin von KOFAVIV, eingeladen von der Londoner „Haiti Support Group“ für eine Reihe von Solidaritätsveranstaltungen zwischen dem 9. und 16. Januar 2011, hat unterdessen kein Visum für Großbritannien bekommen und kann daher nicht an den Veranstaltungen teilnehmen.
Noch immer soll mehr als eine Million Menschen in Haiti in Notquartieren leben.
Quellen:
Haiti Support Group: One-Year On: Haitians on Haiti; Inter Press Service, 06.01.2011; KOFAVIV (Facebook); MADRE, 27.07.2010; Pambazuka News, 01.04.2010.