deeds not words

Ungefähr 150 Suffragetten zerstörten am 1. März 1912 gegen halb sechs Uhr nachmittags mit Hämmern und Steinen die Schaufenster in mehreren Straßen des Einkaufsviertels im Londoner Westend. Die Aktion vor 110 Jahren war der Auftakt einer von der Women’s Social and Political Union (WSPU) organisierten Kampagne der zerschlagenen Fensterscheiben, um ihrer Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen* Nachdruck zu verleihen. Sie wurde in den folgenden Tagen fortgesetzt, traf auch Regierungsgebäude und in der Folge befanden sich Ende März 1912 über 200 Frauen* im Gefängnis.
Die WSPU war 1903 in Manchester unter Federführung von Emmeline Pankhurst gegründet worden, die ebenfalls Mitglied der Independent Labour Party (ILP) war, aber das Engagement der Partei für Frauen*rechte als nicht ausreichend betrachtete. Entsprechend war die Gründung von aktiven Arbeiterinnen* und Mitgliedern der ILP, aber auch von ihren Töchtern Christabel und Sylvia unterstützt worden.

Annie Kenney und Christabel Pankhurst
Die Suffragetten Annie Kenney und Christabel Pankhurst

Später gehörten dem als klassen- und parteiunabhängig geschaffenen Zusammenschluss auch viele bürgerliche Frauen* an und Ann („Annie“) Kenney blieb die einzige Arbeiterin, die in der Führung der WSPU eine prominente Rolle spielte. Im Alter von 10 Jahren hatte Annie Kenney eine Teilzeitarbeit in einer Baumwollfabrik aufgenommen und ab dem Alter von 13 Jahren in Vollzeit 12-Stunden-Schichten gearbeitet. Die Störung einer Versammlung der Liberal Party in Manchester durch sie und Christabel Pankhurst 1905, nach der beide inhaftiert wurden, gilt als wichtiger Schritt zu handlungsorientierteren Taktiken im Kampf um ein Frauen*wahlrecht.
Den Begriff suffragette (von suffrage = Stimmrecht, Wahlrecht), der zunächst von der britischen Presse verwendet wurde, übernahmen die protestierenden Frauen* in ihren Auseinandersetzungen als Selbstbezeichnung. Unter dem Motto deeds not words (Taten statt Worte) versuchten sie nun, im Gegensatz zu einer Lobbypolitik anderer Organisationen, durch öffentlichkeitswirksame Maßnahmen, Demonstrationen, Kundgebungen etc. Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu schaffen.
Ereignisse im November 1910 führten dann zu einer weiteren Hinwendung zu militanten Methoden, nachdem eine Gesetzesvorlage zum Frauen*stimmrecht von der Regierung Asquith bewusst verschleppt worden war. Während einer Demonstration gegen diese Verweigerung der Regierung in London, bei der Frauen* zum Parlament zu gelangen versuchten, kam es zu schweren, teilweise sexualisierten Übergriffen der Polizei auf Demonstrantinnen*. Die damalige Gewalt soll den späteren Tod von zwei Suffragetten (mit-)verantwortet haben. Neben der Kampagne der zerschlagenen Fensterscheiben nutzten die Suffragetten danach weitere Mittel, um erheblichen Schaden anzurichten: Säure wurde auf Golfplätze gegossen, Telegrafenkabel zertrennt, Brandanschläge verübt, wie auf das Tea House in den botanischen Gärten Kew Gardens im Südwesten Londons, das abbrannte.

Rosa May Billinghurst während einer Demonstration 1908
Die Suffragette Rosa May Billinghurst erkrankte im Alter von fünf Monaten schwer (wahrscheinlich an Polio) und ihre Beine blieben zeitlebens größtenteils gelähmt. An Demonstrationen beteiligte sie sich in einem dreirädrigen Rollstuhl (hier 1908).

Unter den Frauen*, die nach dem Einschlagen von Schaufenstern Anfang März 1912 im Londoner Frauengefängnis Holloway inhaftiert worden waren, befand sich unter anderem eine Komponistin, Ethel Smyth. Zwei Jahre zuvor hatte sie den March of the Women komponiert, der bald als Hymne der Suffragetten bekannt geworden war. Auch im Gefängnis wurde das Stück gemeinsam geprobt, während die Musikerin mit einer Zahnbürste den Takt vorgab.
Aber trotz diesem Elan und den Kämpfen der Suffragetten wurde erst im Februar 1918 in Großbritannien ein Gesetz erlassen, das Frauen* die Teilnahme an Wahlen ermöglichte, und dann zunächst ausschließlich Frauen*, die über 30 Jahre alt waren und ein bestimmtes Vermögen hatten. Da war die Women’s Social and Political Union bereits im I. Weltkrieg patriotisch geworden und hatte ihre Wahlrechtsaktionen eingestellt.

Quellen (unter anderem):
Newspaper cutting: Glass-Smashing for Votes! Suffragettes as Window-Breakers, Museum of London, 09.03.1912 (zuletzt aktualisiert 13.12.2020), https://collections.museumoflondon.org.uk/online/object/547960.html, Sarah Fielding: Overlooked No More: Rosa May Billinghurst, Militant Suffragette, The New York Times, 30.10.2020, https://www.nytimes.com/2020/10/30/obituaries/rosa-may-billinghurst-overlooked.html, Elgin Heuerding: Ethel Smyth landet im Gefängnis, BR Klassik, 09.05.2019, https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/ethel-smyth-gefaengnis-frauenwahlrecht-suffragette-was-heute-geschah-1912-100.html, Jana Günther: Die Suffragetten. Mit Militanz zum Frauenstimmrecht, bpb, 12.10.2018, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/277333/die-suffragetten/?p=all, Brigit Katz: Newly Discovered Letter Sheds Light on Overlooked Suffragette, Smithsonian Magazine, 28.09.2018, https://www.smithsonianmag.com/smart-news/newly-discovered-letter-sheds-light-overlooked-suffragette-180970381/, Vicky Iglikowski-Broad, Katie Fox und Rowena Hillel: Suffragettes, 1912: ‘Rather broken windows than broken promises’, The National Archives, 18.05.2018, https://blog.nationalarchives.gov.uk/rather-broken-windows-broken-promises/, Michaela Karl: Suffragette Emily Wilding Davison: „Taten, nicht Worte!“, die tageszeitung, 04.06.2013, https://taz.de/Suffragette-Emily-Wilding-Davison/!5066187/.

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