Der folgende Ausschnitt ist einem Artikel über jemenitische Frauen in der Neuen Zürcher Zeitung (08. August 2012) entnommen.
Jemenitinnen haben sich aufgemacht, das Gesicht ihres Landes nachhaltig zu verändern. Sie prangern gesellschaftliche Tabus an und fordern politisches Mitspracherecht. Ob sich ihr Einsatz in politische Mitsprache ummünzen lässt, bleibt ungewiss.
Helene Aecherli, Sanaa
Die Frauen kommen zu zweit oder in kleinen Gruppen, drängen sich eilig durch das blecherne Tor, das jedes Mal krachend hinter ihnen ins Schloss fällt. Sie huschen den schmalen Gang zum Haus hoch, manche nehmen ihren Schleier vom Gesicht, als wäre er ein Visier, andere warten damit, bis sie die schützenden Mauern erreicht haben. Es ist 16 Uhr, die Zeit nach dem Abwasch und dem Nachmittagsgebet, die Zeit, zu der Männer in Sanaa beim Katkauen sind und Frauen Nachbarinnen oder weibliche Familienmitglieder besuchen. Shymaa, die Herrin des Hauses, hat heute zu Ehren ihrer Freundin aus der Schweiz zu einer Frauenrunde eingeladen. Stolz weist sie ihre Gäste in den Maglis, den Salon. Ihre beiden älteren Töchter bringen Kaffee und Kuchen, die Luft ist von Parfum und Weihrauch erfüllt.
Gesprächsstoff
Die Stimmen schwirren erst schüchtern, dann immer lauter und aufgeregter durch den Raum. Die Rede ist von einer Bekannten, die vor wenigen Tagen in einen Schusswechsel geraten ist. Sie war mit ihrem Bruder abends unterwegs gewesen, als ihn herumlungernde Soldaten zum Anhalten zwangen. Sie wollten den Wagen. Als der Bruder Gas gab, schossen sie der jungen Frau in den Kopf. Ob sie überlebt, ist ungewiss. «Wenn ich so etwas höre, würde ich am liebsten weinen vor Wut», zischt Rofeida, eine 18-jährige Schülerin, die neben mir auf dem hellen Sitzkissen kauert. «Ich glaube, solche Attacken werden absichtlich verübt, um uns Frauen in Schranken zu halten.» Trotzig presst sie ihre Lippen zusammen. Sie werde sich jedoch nicht beeindrucken lassen, sagt sie. Im Gegenteil, sie plane, eine Schule zu eröffnen, eine Art Akademie für Talente, an der Jugendliche, Mädchen wie Burschen, ihre künstlerischen Begabungen weiterentwickeln können. Damit wolle sie beweisen, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden Geschlechtern nichts Schlechtes, sondern für die Gesellschaft notwendig sei, um vorwärtszukommen. Erst hatte sie Angst davor, jemandem von ihren Plänen zu erzählen. Was würde man bloss von ihr denken, fragte sie sich. Darf ein Mädchen überhaupt so etwas tun? «Aber die Revolution hat mir eines gezeigt: Alles ist möglich. Wenn du etwas tun willst, tu es.»
Rofeidas Worte bringen zum Ausdruck, was sich zu manifestieren begann, als Jemenitinnen im vergangenen Jahr massenweise die politische Bühne betraten, um über die politische Zukunft des Landes mitzubestimmen: Die Frauen machen sich auf, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Und mehr noch, sie nehmen sich das Recht heraus, es auch aktiv mitzugestalten. Sie brechen damit das traditionelle Stereotyp von der weiblichen Passivität.
Dabei ist die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben von Frauen in Jemen nicht neu. Das Wahl- und Stimmrecht für Frauen wurde 1970 eingeführt, ein Jahr bevor dies in der Schweiz geschah. Auf dem «Freedom Square» in Tais, der zweitgrössten Stadt des Landes, demonstrieren Frauen und Männer seit Jahrzehnten gemeinsam für Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit. Im ehemals kommunistischen Süden genossen Frauen zumindest auf dem Papier weitgehend die gleichen Rechte wie Männer. Doch sind diese Errungenschaften im landesweiten Geflecht aus patriarchalen Stammesstrukturen und islamistischem Fundamentalismus Randerscheinungen geblieben. Im Süden wurde die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern nach der Wiedervereinigung des Landes rasch wieder rückgängig gemacht, was letztlich auch eine starke Frauenbewegung verhinderte. Und ein ernüchternder Beweis dafür ist, dass gerade Frauenrechte gerne als Erstes aufs Spiel gesetzt werden, wenn es der Erhaltung von Macht und Status der herrschenden Eliten dient.
So wird noch immer gut die Hälfte der Jemenitinnen im Alter von 15 Jahren und jünger verheiratet, dürfen viele Frauen nur in Begleitung eines «Mahram», eines männlichen Verwandten, ins Ausland reisen, sind drei Viertel der Jemenitinnen Analphabetinnen. Zwar wächst die Schicht der hochgebildeten Frauen zusehends. An manchen Fakultäten sind weibliche Studierende bereits in der Überzahl. Sie erzielen die besseren Noten als ihre männlichen Kommilitonen und werden von privaten Firmen bei der Stellenvergabe gegenüber Männern bevorzugt. Dennoch sitzt erst eine einzige Frau im 301-köpfigen Parlament, sind Zahl und Einfluss von Frauen in den Parteien marginal. Laut dem «Global Gender Gap Report», der die politische und ökonomische Beteiligung von Frauen misst, liegt Jemen von 135 Ländern auf dem letzten Platz.
Zum gesamten Artikel (Neue Zürcher Zeitung, 08. August 2012):
Frauen in Jemen: „Wenn du etwas tun willst, tu es“