Die Türkei ist in der Nacht zu letztem Samstag durch Präsidialdekret aus der Istanbul-Konvention (eigentlich: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) ausgetreten. Nun könnte dieses Abkommen herzlich egal sein, wenn die Realität besser wäre, aber laut der Plattform ‚Wir werden Frauenmorde stoppen‘ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu), die sofort zu Protesten aufrief, sind vergangenes Jahr in der Türkei von Männern aus ihrem Umfeld 300 Frauen ermordet worden und weitere 171 Tote unter verdächtigen Umständen aufgefunden worden. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte Mitte 2020 schon von einem Anstieg der Zahl der Femizide zwischen 2015 und 2019 um etwa 60 Prozent im Land berichtet.
Empört über diesen Schritt demonstrierten daher im Laufe des Wochenendes in Istanbul und anderen türkischen Städten Tausende und zeigten dabei Plakate mit Porträts getöteter Frauen* (einige Videos und Bilder von Demonstrationen und Kundgebungen sind auf dem Twitter-Account der Plattform ‚Kadın Cinayetlerini Durduracağız‘ zu finden). Die Proteste werden in den kommenden Tagen fortgesetzt.
Die sogenannte Istanbul-Konvention war im Jahr 2011 bei einer Konferenz in der türkischen Millionenmetropole beschlossen und von der Türkei noch im selben Jahr ratifiziert worden. Am 1. August 2014 trat sie schließlich in Kraft. (In Deutschland erfolgte die Ratifizierung dagegen Jahre später und sie gilt hier erst seit 2018.) Obgleich feministischen Organisationen zufolge die Konvention in der Türkei nie richtig umgesetzt worden ist, sind sie doch der Auffassung gewesen, sie könne zu einem erhöhten Bewusstsein über Geschlechtergewalt im Land beitragen. Und auch internationale Übereinkommen sind letztlich von unten erkämpft worden, denn das Thema muss zunächst auf die Tagesordnung gestritten werden. Der Rückzug, der nun die offizielle Haltung zu Gewalt gegen Frauen* widerspiegelt, legitimiert weitere Übergriffe und Morde.
Präsident Erdoğan ist nach allgemeiner Ansicht mit dem Austritt konservativ-islamischen Kreisen entgegengekommen, für die das Abkommen die Einheit der Familie gefährdet und zur Scheidung ermutigt. Außerdem fördere es sexuelle Minderheiten, da in Artikel 4 die Umsetzung ohne eine Diskriminierung unter anderem wegen der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität gefordert wird.
Mit ähnlichen Argumenten haben Staaten wie Ungarn oder Bulgarien eine Ratifizierung bisher abgelehnt. Polen, das bereits mit seinem vollkommenen Abtreibungsverbot den Wünschen der katholischen Kirche entgegengekommen ist, überlegt ebenfalls seit längerem, sich aus der Istanbul-Konvention zurückzuziehen. Deutschland selbst hat die Konvention nur unter Vorbehalt ratifiziert: Artikel 59 (2) und (3) gelten hier nicht, wodurch Frauen* ohne gesicherten Aufenthaltstitel nur mangelhaft vor Gewalt geschützt sind, obwohl Artikel 4 auch ein Diskriminierungsverbot aufgrund „des Migranten- oder Flüchtlingsstatus“ enthält.
Möglicherweise unter anderem darum kritisierte die Bundesregierung in Person von Außenminister Maas den Konventionsaustritt (zusammen mit dem in der Türkei eingeleiteten Verbotsverfahren gegen die mehrheitlich kurdische Oppositionspartei HDP) äußerst zaghaft als „falsches Zeichen“. Zudem sollen seit dem EU-Türkei-Deal von 2016 im Rahmen der allgemeinen Politik der Flüchtenden-Entrechtung die Türkei und ihr Präsident offenkundig nicht verärgert werden.
Auch hierzulande wird übrigens (nach Zahlen aus dem Jahr 2018) jeden dritten Tag eine Frau* von ihrem Partner* oder Ex-Partner* ermordet (Nicht-cis-Personen erleben ebenfalls Gewalt in Beziehungen und Erfassung und Begriffe sind hier bisher sowieso unzureichend), während bekanntermaßen die Zahl der Frauenhausplätze viel zu gering ist.
Deshalb sowohl in der Türkei als auch hier: Kadın cinayetlerine karşı! Gegen Femizide!