„Zu Hunderttausenden haben sich Frauen zu täglichen Demonstrationen versammelt, sie vertreten die streikenden Gewerkschaften der Lehrer_innen, Bekleidungsarbeiter_innen und des medizinischen Personals – alles von Frauen dominierte Sektoren“, berichtete Anfang März die New York Times1Hannah Beech: ‘She Is a Hero’: In Myanmar’s Protests, Women Are on the Front Lines, The New York Times, 04.03.2021, https://www.nytimes.com/2021/03/04/world/asia/myanmar-protests-women.html. über die bedeutende weibliche Beteiligung an den Massenkundgebungen gegen den Militärputsch in Myanmar. Die Jüngsten befänden häufig in den ersten Reihen, wo sie von den Sicherheitskräften ins Visier genommen würden.
Auch dem Magazin Foreign Policy2Jessie Lau: Myanmar’s Women Are on the Front Lines Against the Junta, Foreign Policy, 12.03.2021, https://foreignpolicy.com/2021/03/12/myanmar-women-protest-junta-patriarchy-feminism/. zufolge richtet sich der Protest gleichzeitig gegen eine patriarchale Ordnung, als deren Repräsentanten sich die Streitkräfte darstellen. Die Zusammensetzung der Protestierenden sei vielfältig; es seien streikende Beschäftigte ebenso wie besonders Jüngere aus der Mittelschicht, Frauen* aus ethnischen Minderheiten oder Angehörige der LGBTI-Community, die sich an der Bewegung gegen Staatsstreich beteiligten.
Die Ordnungskräfte reagieren jedoch mit brutaler Gewalt auf den Widerstand: Die Zahl der getöteten Teilnehmer_innen von Anti-Putsch-Demonstrationen liegt nach Angaben einer Unterstützungsorganisation für politische Gefangene inzwischen (am 17.03.2021) bei über 200.3Unter anderen: Über 200 Tote seit Militärputsch in Myanmar (APA/dpa/Reuters), Südtirol News, 17.03.2021, https://www.suedtirolnews.it/politik/ueber-200-tote-seit-militaerputsch-in-myanmar; Gewalt der Militär-Junta: Zahl der Toten bei Demonstrationen in Myanmar übersteigt 200 (june/dpa), RP Online, 17.03.2021, https://rp-online.de/panorama/ausland/myanmar-tote-bei-demonstrationen-uebersteigt-zahl-von-200_aid-56844979. Junta-Kräfte legten mit Scharfschützengewehren auf Demonstrierende, aber auch auf andere Bürger_innen an, es gibt Fälle von Verschleppungen und Folter. Dennoch reißen die Proteste bisher nicht ab, die in Myanmar einige Tage nach der erneuten Machtübernahme durch das Militär zu Beginn der neuen Legislaturperiode am 1. Februar eingesetzt haben.
Myanmar (früher Burma, 1989 wurde das Land umbenannt) hatte erst in den letzten Jahren angefangen, sich von einer langen Zeit der Militärdiktatur zu lösen, die bereits 1962 mit einem Militärputsch begonnen hatte. Im Jahr 1990 hatte dann die Politikerin Aung San Suu Kyi mit ihrer Partei, der Nationalen Liga für Demokratie (NLD), die von den Streitkräften schließlich wieder zugelassenen Wahlen gewonnen. Das Militär weigerte sich dennoch, die Macht abzugeben, und hielt Aung San Suu Kyi für insgesamt 15 Jahre im Hausarrest fest.
Die Generäle haben sich bis jetzt erheblichen Einfluss vorbehalten, aber im November letzten Jahres gewann die Nationale Liga für Demokratie die inzwischen erneut zugestandenen Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit. Zwar ist Aung San Suu Kyi vorgeworfen worden, zu der Politik von Vertreibung und Ermordung der Rohingya, einer muslimischen Minderheit im Westen, durch das myanmarische Militär geschwiegen bzw. diese verharmlost zu haben. Aber die Hoffnung auf eine Zurückdrängung der Herrschaft der Streitkräfte sichern ihr und ihrer Partei weiterhin einen großen Rückhalt in der (ethnisiert gespaltenen) Bevölkerung.
Währenddessen ist das Land in den letzten Monaten immer tiefer in eine auch durch die Covid-19-Pandamie verursachte Wirtschaftskrise gerutscht, worauf das Militär einmal mehr seine eigene Vorstellung einer „Eindämmung von Unzufriedenheit“ umgesetzt hat.
Der aktuelle Auftragsrückgang hat die Beschäftigten von Zulieferfirmen der internationalen Bekleidungskonzerne ebenso wie in anderen Ländern der Region getroffen. „Während der ersten Monate des Coronavirus-Ausbruchs wurde eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern entlassen, nachdem die Gewerkschaften ihre Stimme wegen unsicherer Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit Covid-19 und nicht gezahlten Löhnen erhoben hatten“, meldete die Kampagne für Saubere Kleidung4Kampagne für Saubere Kleidung: „Union-Busting“ in Myanmar: Gewerkschaftsunterdrückung in Zeiten von Covid-19, 30.11.2020, https://saubere-kleidung.de/2020/11/union-busting-in-myanmar-covid-19/. letzten November. Berichten zufolge haben Bekleidungsarbeiter_innen und deren gewerkschaftliche Organisationen eine wichtige Rolle bei der Veranlassung der jetzigen Proteste gespielt. Mai Ei Ei Phyu, die eine Gewerkschaft mit etwa 500 Mitgliedern in einer Fabrik führt, die Jacken für Adidas und BSK, eine Marke des Unternehmens Inditex (u. a. Zara), herstellt, sagte laut New York Times5Elizabeth Paton: Myanmar’s Defiant Garment Workers Demand That Fashion Pay Attention, The New York Times, 12.03.2021, https://www.nytimes.com/2021/03/12/business/myanmar-garment-workers-protests.html., sie sei stolz auf die führende Rolle, die in den ersten Tagen der Auseinandersetzung die Bekleidungsgewerkschaften übernommen hatten, und auf die Rolle junger Textilarbeiterinnen.
Einem Zulieferer von Primark wurde im britischen Guardian6Guardian-Reporter in Yangon und Rebecca Ratcliffe: Primark supplier accused of locking workers in factory in Myanmar protests, The Guardian, 13.03.2021, https://www.theguardian.com/global-development/2021/mar/13/primark-supplier-accused-of-locking-workers-in-factory-in-myanmar-protests. unterdessen vorgeworfen, Arbeiter_innen eingesperrt zu haben, um deren Teilnahme an den Protesten zu verhindern, und nach einem Ausbruch aus dem Werk Beschäftigte entlassen zu haben. Allerdings fordern nun Gewerkschaftler_innen die Modeketten auf, sich auf ihre Seite zu stellen und Sanktionen in Zulieferbetrieben zu verhindern.7Elizabeth Paton: Myanmar’s Defiant Garment Workers Demand That Fashion Pay Attention, The New York Times, 12.03.2021, https://www.nytimes.com/2021/03/12/business/myanmar-garment-workers-protests.html.
Kommentator_innen zufolge wird es Protestbewegung schwer haben, sich gegen die mörderischen Streitkräfte durchzusetzen, solange nicht andere Länder in der Region, insbesondere das mächtige China, genug haben und Druck auf die Militärjunta ausüben. Die Bevölkerung in Myanmar aber bleibt seit Wochen auf der Straße und fordert damit bereits zum sechsten Mal seit 1962 ein Ende der Militärherrschaft.8Jonathan Weckerle: „Die Soldaten handeln wie Terroristen“, Jungle World, 11.03.2021, https://jungle.world/artikel/2021/10/die-soldaten-handeln-wie-terroristen. „Ich sage aber ganz klar: Nichts kann uns aufhalten. Alles andere zählt nicht, wir werden tun, was wir tun müssen – ganz gleich, wie hoch der Preis ist“, sagte Ende Februar in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau9Sabine Hamacher: Aktivistin über Proteste: „Wir wollen zurück, was sie uns genommen haben“, 28.02.2021, https://www.fr.de/politik/myanmar-proteste-putsch-militaer-junta-demokratie-proteste-interview-news-90222038.html. eine Aktivistin in Myanmar. Wir sollten mit den Protestierenden hoffen, dass die Militärjunta diesen Preis bald nicht mehr in die Höhe treibt.