Rassistische Mobilisierungen

Das Interesse an Siegen, Kreisstadt in Südwestfalen, ließ vergangene Woche bald wieder nach (was Bewohner*innen wahrscheinlich eher recht ist): Letzten Freitag (30. August) stach in einem Bus auf dem Weg zum Stadtfest eine Frau mit einem Messer auf andere Fahrgäste ein; sechs Menschen wurden verletzt, drei davon lebensgefährlich. Während die Angreiferin deutsch ohne Migrationsgeschichte/postmigrantischen Hintergrund war, hatten die Frauen, die sich zu dritt auf die Täterin stürzten und sie entwaffneten, wie Siegens Bürgermeister Mues erklärte, „einen Migrationshintergrund“. Was in den Medien oft unberichtet blieb.1Siehe unter anderem: Teresa Toth/Kilian Bäuml: Messerangriff in Siegen: Frau sticht in Bus auf Fahrgäste ein – Fahrer habeheldenhaft reagiert“, Frankfurter Rundschau, 01.09.24, https://www.fr.de/panorama/siegen-messerangriff-bus-frau-sticht-auf-fahrgaeste-busfahrer-verletzte-lebensgefahr-93273232.html.
Wobei die Zuschreibung Migrationshintergrund auch problematisch sein kann: Sie reduziert komplexe Identitäten in der bundesdeutschen Gesellschaft auf ein Kriterium: Jeder Person, die in diesem Land als ‚nicht-weiß‘ gelesen werde, hafte dieses Wort an, führte Azadê Peşmen auf Deutschlandfunk Kultur2Azadê Peşmen: Fünf Gründe gegen das Wort Migrationshintergrund“, Deutschlandfunk Kultur, 23.01.2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-ueber-begriff-fuenf-gruende-gegen-das-wort-100.html. 2021 aus, ohne dass sie eine Chance auf Entlassung haben. „Auch nicht in fünfter Generation.“ Zur Ausgrenzung verwendet, dient der Begriff allgemein der Unterstellung vererbter „Nichtzugehörigkeit“.
Hier weist er jedoch gerade auf rassistische Realitäten hin. „Ohne auch nur den Hauch einer Chance, Details über die Tatverdächtige wissen zu können, sprang die Maschinerie der rechten Hetze im Netz kurz nach der Messer-Attacke in Siegen an“, berichtete das Portal DerWesten.3Alexander Keßel: Siegen (NRW): Unsägliche Reaktionen nach Messer-Attacke in Bus – Polizei schreitet sofort ein, DerWesten (WAZ-Gruppe), 31.08.24, https://www.derwesten.de/region/siegen-nrw-messer-hetze-id301118720.html. Die Polizei sah sich gezwungen ausdrücklich mitzuteilen:

Wir möchten an dieser Stelle ganz deutlich klarstellen: Bei der 32-jährigen Tatverdächtigen handelt es sich um eine Frau mit deutscher Staatsangehörigkeit und ohne Migrationshintergrund. Bitte unterlassen Sie die Spekulationen und Anfeindungen in jegliche Richtung!

Sogar danach musste noch erklärt werden, dass die Täterin – die psychische Probleme haben soll, aber immerhin mit verbotenem Einhandmesser, Schraubenzieher und weiteren Messern ausgerüstet gewesen sein soll4Michael Koch: Messerattacke im Bus: Tatverdächtige aus dem Kreis Olpe, Westfalenpost, 01.09.24, https://www.wp.de/lokales/kreis-olpe/article407150815/messerattacke-im-bus-tatverdaechtige-aus-dem-kreis-olpe.html. – keine „deutsche muslimische Frau“ gewesen ist.

FakeNews-Verbreiter*innen werden ihre rassistischen Narrative wohl trotz dieser Informationen weiter befeuern.5Wie der Siegener Kontext auch in vorgeblich seriösen Medien verzerrt und instrumentalisiert werden kann, siehe z. B.: Alexander Kissler (Berlin): «Um die Rückführung gar nicht gekümmert»: In der Migrationsdebatte wächst die Kritik an Hendrik Wüst, Neue Zürcher Zeitung, 31.08.24, https://www.nzz.ch/international/migration-nach-dem-anschlag-von-solingen-waechst-die-kritik-an-hendrik-wuest-ld.1846352. Aber auch Bundespolitiker*innen haben nicht darüber gesprochen, dass – eine Woche nach dem fürchterlichen Anschlag beim Solinger Stadtfest, bei dem ein islamistischer Täter drei Menschen ermordete6Siehe unter anderem: Yağmur Ekim Çay: Anschlag in Solingen: Alte Wunden, neue Wunden, die tageszeitung, 31.08.24, https://taz.de/Anschlag-in-Solingen/!6030795/. – hier Tote verhindert wurden (die Siegener Opfer sind glücklicherweise außer Lebensgefahr).
Mit unterschiedlicher Debattenlautstärke und einer (leider üblichen) verzerrend-diskriminierenden Zuweisung von Kriminalität7Unter anderem: Prof. Dr. Henning Ernst Müller: Tausendfache Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) zur Manipulation der Polizeilichen Kriminalstatistik?, beck-blog, 15.04.2024, https://community.beck.de/2024/04/15/tausendfache-verfolgung-unschuldiger-ss-344-stgb-zur-manipulation-der-polizeilichen-kriminalstatistik; Fabian Goldmann: Wie Medien die Wirklichkeit verzerren, Telepolis, 19.12.19, https://www.telepolis.de/features/Gewaltkriminalitaet-Wie-Medien-die-Wirklichkeit-verzerren-4617258.html?seite=all; Mediendienst Integration: Wie berichten Medien über Migration und Flucht?, https://mediendienst-integration.de/integration/medien.html. soll vorgegauckelt werden, das Land werde mit Aussperrung bestimmter Menschen sicherer: Nach dem Anschlag in Solingen wurden aus voller Kehle schärfere Gesetze angekündigt8Unter anderem: Luise Sammann: Migrationspolitik: Debatte gerät in Schieflage, Deutschlandfunk, 03.09.24, https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-migrationsgipfel-100.html (als seien in den letzten Jahren Geflüchtete nicht genug entrechtet worden9Siehe z. B. Pro Asyl (pva): Das Gegenteil von Verbesserungen: Das neue Rückführungsgesetz verschlimmert die Lage, PRO ASYL, 27.02.2024, https://www.proasyl.de/news/das-gegenteil-von-verbesserungen-das-neue-rueckfuehrungsgesetz-verschlimmert-die-lage/.) und mit Befriedigung erste Abschiebungen in das Folterland Afghanistan verkündet.10Pressemitteilung: PRO ASYL zur Abschiebung nach Afghanistan, PRO ASYL, 30.08.24, https://www.proasyl.de/pressemitteilung/pro-asyl-zur-abschiebung-nach-afghanistan/. Abschiebeflüge nach Kabul sind aber bloß in Zusammenarbeit mit einem islamistischen Taliban-Regime möglich, das z. B. gerade erst ein Tugendgesetz erlassen hat, um Frauen* öffentlich zum Schweigen zu bringen – von denen einige (noch) mutig genug sind, in Videoaufnahmen ihren Protest zu singen.11Emran Feroz: „Tugendgesetzin Afghanistan: Singen gegen die Taliban, die tageszeitung, 03.09.24, https://taz.de/Tugendgesetz-in-Afghanistan/!6031142/. Und auch wenn die Verhandlungen über Dritte liefen, verleihen sie Legitimität, normalisieren Beziehungen (deren Wiederaufnahme sich die Taliban jetzt erhoffen12N-tv (ntv.de, gri/dpa): „Liegt im Interesse beider“. Abschiebeflug ermutigt Taliban: „Beziehungen wieder aufnehmen“, n-tv, 05.09.24, https://www.n-tv.de/politik/Abschiebungen-nach-Afghanistan-Taliban-fuer-Zusammenarbeit-mit-Deutschland-article25207168.html.) und sind alles andere als Islamismus-Prävention.

Sollten die Ampel-Parteien damit tatsächlich, wie im ZDF13Lennart Glaser, Adrian Lächele: Kritik an Abschiebeflug: Legitimiert Deutschland so das Taliban-Regime?, ZDFheute, 30.08.2024, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-abschiebungen-kritik-flug-ampel-solingen-100.html. nahegelegt, vor den ostdeutschen Landtagswahlen auf Stimmenfang gewesen sein, hätten sie wissen müssen, dass sie keinen Blumentopf gewinnen: Die faschistoide (bzw. rassistische und misogyne) AfD – mit z. B. dem Thüringer Spitzenkandidaten Höcke, der problemlos als Faschist bezeichnet werden kann (ein „an Tatsachen anknüpfendes Werturteil“, keine Beleidigung14Danijel Majić: Staatsanwaltschaft Frankfurt: Demonstranten dürfen Björn Höcke alsNazibezeichnen, Hessenschau, 04.07.23, https://www.hessenschau.de/politik/demonstranten-duerfen-afd-politiker-bjoern-hoecke-als-nazi-bezeichnen-v1,ermittlungen-hoecke-ist-ein-nazi-eingesellt-100.html; Fatma Aydemir: „Faschist“-Urteil zu AfDler Höcke: Stigmatisiert sie!, die tageszeitung, 29.09.19, https://taz.de/Faschist-Urteil-zu-AfDler-Hoecke/!5625346/.) – toppen zu wollen, kann diese bloß bestärken.
Die AfD biete an, „eine – in der Form in Wirklichkeit nie existierende – Vergangenheit und damit auch die ‚Polarität der Geschlechter‘“ (wieder-)herzustellen, erklärt im Interview Sozialpsychologin Eva Walther, und verspreche eine „Maskulinitätsrestauration durch Selbstheroisierung“, etwa als Retter der Nation.15Claus-Jürgen Göpfert(Interview mit der Sozialpsychologin Eva Walther): Jugend-Offensive der AfD: Sozialpsychologin erklärt die Strategie, Frankfurter Rundschau, 03.06.24, https://www.fr.de/politik/jugend-offensive-der-afd-sozialpsychologin-erklaert-die-strategie-93107461.html; Eva Walther im Gespräch mit Barbara Weber: Aufstieg der AfD: „AfD suggeriert verunsicherten Menschen Sicherheit“, Deutschlandfunk, 08.08.2019, https://www.deutschlandfunk.de/aufstieg-der-afd-afd-suggeriert-verunsicherten-menschen-100.html. Hier spielen also male privilege und hierarchisierte Geschlechterverhältnisse eine Rolle, aber ebenso eine angebotene „Selbstaufwertung“ durch die konstruierte (maskulinisierte) nationale Identitätsvorstellung, bei der ein imaginiertes „Deutschsein“ zum Wert verklärt wird.
Das sind natürlich bloß Aspekte – wegen denen alle gern weiter gegen die AfD protestieren sollen, wie kürzlich beim Parteitag in Essen Zehntausende16Kyra Preuß: AfD-Parteitag in Essen: Zehntausende bei Demos, WDR1, 30.06.24, https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/proteste-gegen-afd-parteitag-in-essen-100.html; Felix Huesmann, Jan Sternberg, Matthias Schwarzer: Blockaden beim AfD-Parteitag in Essen: Polizei muss Delegierten den Weg freiräumen, Redaktionsnetz Deutschland, 29.06.24, https://www.rnd.de/politik/afd-parteitag-in-essen-tausende-protestieren-in-der-innenstadt-WNKMRPVZ2ZKVJDL57A7UF7ORRI.html., aber ausreichend ist das nicht. Längst eilen Ampel-Parteien sowie neuerdings besonders Merz & Co. ihr mehr als bereitwillig voraus17Volkan Agar: Debatte über Migrationspolitik: Jenseits des Grundgesetzes, die tageszeitung, 30.08.24, https://taz.de/Debatte-ueber-Migrationspolitik/!6030840/. und Gegenwehr gegen die ständige Entmenschlichung migrantisierter Menschen findet kaum statt. Proteste gegen Rechts, Rassismus und Sexismus dürfen sich nicht auf eine Partei begrenzen!
Abgesehen davon: Muss Anteilnahme und Unterstützung für alle Opfer, Opferangehörige sowie Gewalterlebenden erschütternder (Messer-)Attacken gelten, unabhängig davon, was Täter*innen antreibt, sie für sich beanspruchen, ihr angebliches Herkommen ist usw. Selbstverständlich. Die Hetzenden sind, wie das Beispiel Siegen (einmal wieder) zeigt, daran ganz und gar nicht interessiert.

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