Für deutsche Kliniken und Medizindienstleister ist die Eurokrise ein Glücksfall. Sie bietet die Möglichkeit, ihren Fachkräftebedarf zu decken: 300.000 Pflegerinnen und Pfleger aus Süd- und Osteuropa arbeiten mittlerweile in der Bundesrepublik.
Das berichtete die Frankfurter Rundschau Anfang September.1Jörn Boewe/Johannes Schulte: Fachpersonal zum Schnäppchenpreis. Frankfurter Rundschau, 08.09.2014 (eine nachfolgende Suche hat ergeben, dass der Artikel am 16.07.14 bereits in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde, also hier auch online: http://www.berliner-zeitung.de/politik/billige-pflegekraefte-aus-suedeuropa-arbeitnehmer-zweiter-klasse,10808018,27862758,item,0.html). Personal wird ebenfalls für Seniorenheime angeworben und nicht nur in Süd- oder Osteuropa. Im Januar kamen beispielsweise die ersten Pflegerinnen aus China in die Bundesrepublik, um in einem Seniorenheim der Curanum AG – einer der größten privaten Betreiber von Senioren- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland – in Frankfurt am Main zu arbeiten. Ausschlaggebend für die Personalchefin der Curanum AG, Elke Bachmann-Göre, seien allerdings nicht die guten beruflichen Qualifikationen der chinesischen Pflegekräfte gewesen (alle verfügen über einen Bachelor-Abschluss), sondern die „Soft Skills der Bewerberinnen“. „Damit meint sie den Respekt vor dem Alter und das offene, freundliche Zugehen auf die älteren Menschen“, informierte der Hessische Rundfunk.2Isabel Reifenrath: Chinesische Pflegerinnen in Frankfurt. Auf der Suche nach Arbeit und Traummann. Hessischer Rundfunk online, 23.01.2014; http://www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten/indexhessen34938.jsp?rubrik=36082&key=standard_document_50634173.
Solche Aussagen reproduzieren die Trennung in erlernbare Kompetenzen (die hier als weniger wichtig betrachtet werden – als wäre Care-Arbeit nicht wissensbasiert) und in eine quasi natürlich anhaftende, über Geschlecht und Ethnizität zugewiesene „traditionelle“ Eignung für die Arbeit in der Pflege. Damit wird Pflegearbeit gewissermaßen zu einer Verlängerung familialer Reproduktionsarbeit als unbezahlter, naturalisierter Arbeit. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, dessen Ausrichtung auf Effizienzsteigerung etc. macht dagegen die nicht marktförmigen Kompetenzen in der Care-Arbeit unsichtbar und tatsächlich unbezahlbar (bzw. unbezahlt) – auch wenn die Interaktion zwischen Personen eine wesentliche Bedingung für die Qualität der Pflege ist. Pflegearbeit ist überwiegend weiblich: Über 80 Prozent der Pfleger_innen in Seniorenheimen und Krankenhäusern sind Frauen, bei den ambulanten Pflegediensten sind es fast 90 Prozent.
Nach Schätzungen werden in den nächsten zehn Jahren zwischen 150 000 und 170 000 Pflegekräfte in Heimen und Kliniken fehlen. Allein für die Altenpflege wird bereits jetzt ein Mangel von etwa 30 000 Arbeitskräften angenommen.3Eva Quadbeck: Tausende Altenpfleger wollen aufhören. RP online, 12.11.2013; http://www.rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/tausende-altenpfleger-wollen-aufhoeren-pflegerat-fordert-einen-nationalen-aktionsplan-aid-1.3810870. Abhilfe dafür sollen nun auch migrationspolitische Lösungen schaffen: die Übernahme von Care-Aufgaben in der Kranken- und Altenpflege durch angeworbene Migrant_innen. Einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2013 zufolge werden Fachkräfte für den Gesundheits- und Pflegebereich insbesondere in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien angeworben. Aber auch mit Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Philippinen und Tunesien wurden Absprachen über die Vermittlung von Fachkräften getroffen.4Deutscher Bundestag, 17 Wahlperiode, Drucksache 17/14716 (06.09.2013), Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Niema Movassat, Annette Groth, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/147/1714716.pdf. Unter anderem sollten bis zu 500 philippinische Krankenpfleger_innen angeworben werden.5Philippinen Blog, Schlagwort-Archiv: philippinische Krankenschwester; http://www.phildreams.de/blog/tag/philippinische-krankenschwester/.
„Wir sind keine Ware“
Bereits in den 1960er-/1970er-Jahren baute die Politik auf eine Anwerbung von Krankenpflegerinnen* in Südkorea, auf den Philippinen und in Indien, um die damalige Care-Krise lösen. Viele der angeworbenen Koreanerinnen* lebten und arbeiteten schließlich im Ruhrgebiet. Als sich Ende der 1970er Jahre die Arbeitslosigkeit erhöhte, sollten ihre Verträge jedoch nicht mehr verlängert werden und sie die Bundesrepublik verlassen.
Als Reaktion darauf begannen sich die Pflegekräfte zu organisieren:
Wir haben dann gemeinsam am Entwurf eines Flugblattes gearbeitet, und da kam der Satz auf: „Wir sind keine Ware!“ Wir wollten uns nicht hin- und herschieben lassen. Aus diesen Treffen und der anschließenden gemeinsamen Unterschriftenaktion wurde dann später die Koreanische Frauengruppe.6 Kook-Nam Cho-Ruwwe, Hyun-Sook Kim, Sa-Soon Shin-Kim, Hyun-Sook Song: „Wir sind keine Ware, wir gehen zurück, wann wir wollen!“ – Ein Gespräch über den Politisierungsprozess der Koreanischen Frauengruppe. In: Kien Nghi Ha u.a. (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus,. Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster, 2007, S. 363 – 371.
Über 11.000 Unterschriften wurden von den Frauen* gegen ihre Zwangsrückkehr gesammelt, Protestbriefe wurden geschrieben, Podiumsdiskussion und Gespräche fanden statt: Die koreanischen Pflegekräfte waren schließlich erfolgreich. Nachdem im Juli 1977 zunächst das Land Berlin nachgegeben hatte, folgten nach und nach weitere Bundesländer; manche der angeworbenen Pflegekräfte waren jedoch bereits vorher abgeschoben worden. Die Koreanische Frauengruppe, die aus dieser „ersten erfolgreichen Bleiberechtkampagne in Deutschland“ hervorging, existiert noch heute.7Heike Berner, Sn-ju Choi: Koreanische Krankenschwestern in Deutschland. In: Kien Nghi Ha u.a. (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus,. Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster, 2007, S. 361 f. Link zur Website der Koreanischen Frauengruppe: http://www.koreanische-frauengruppe.de/.
Gesundung durch die Krise?
Während die Kosten der – als „unproduktiv“ betrachteten – Care-Arbeit gesamtgesellschaftlich niedrig gehalten werden sollen, profitieren gleichzeitig einzelne Gesundheits- und Pflegedienstleister von der Veränderung geschlechtlicher Aufgabenzuschreibungen, d.h. der aktuellen „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, in deren Folge weniger Arbeit in Care-Aufgabenbereichen unbezahlt in den Familien geleistet wird. Stress, unzureichende Personalausstattung und schlechte Bezahlung kennzeichnen häufig vor dem doppelten Hintergrund tradierter Geschlechterzuständigkeit und neoliberaler Marktorientierung die entlohnte Arbeit in der Pflege. Migration wird zudem unter Umständen als „Anlass“ zur Kostensenkung genommen.
So wurden bei der Gesellschaft für medizinische Intensivpflege (GIP) beschäftigte, angeworbene spanische Pflegekräfte schlechter bezahlt als „einheimische“. Aber nicht nur dort gab es nachteiligere Bedingungen: „Auch andere Pflegedienste, Kliniken, Medizindienstleister setzen auf die Anwerbung von Fachkräften aus Krisenländern zum Schnäppchenpreis. ‚Seit drei Monaten kommen immer mehr spanische Pflegekräfte mit ähnlichen Problemen zu uns’, sagt Sylwia Timm von der DGB-Beratungsstelle Faire Mobilität.“8Siehe Fußnote 1.
In den europäischen Krisenstaaten Griechenland, Italien, Portugal und Spanien, in denen um Fachkräfte geworben wird, krankt dagegen das Gesundheitssystem infolge auferlegter Spardiktate. Die Süddeutsche Zeitung berichtete bereits im März 2013 über Griechenland: „Wehe dem, der in Griechenland ernsthaft krank wird: Notaufnahmen haben nur tageweise geöffnet. Angehörige müssen die Pflege von Klinikpatienten übernehmen. Und Hunderttausende haben gar keine Krankenversicherung mehr.“9Alexandros Stefanidis: Gesundheitsversorgung in Griechenland. Schluss, Aus, kein Amen. Süddeutsche Zeitung, 29.03.2013; http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheitsversorgung-in-griechenland-schluss-aus-kein-amen-1.1635719. Auch in Spanien oder in Portugal wurden Einschnitte im Gesundheitswesen veranlasst. Weiterhin trifft außerhalb Europas die Abwerbung von Pfleger_innen auf die Bedingungen in den jeweiligen Ländern: Einen Mangel an Pflegekräften wird es beispielsweise unterschiedlichen Quellen zufolge auch absehbar in China geben.10Siehe unter anderem: http://www.stimmen-aus-china.de/2013/06/22/streit-um-pflegepersonal-chinesische-krankenschwestern-wandern-ins-ausland-ab/; http://library.fes.de/pdf-files/bueros/china/07818.pdf; http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/49462/China-will-sieben-Millionen-Altenpfleger-ausbilden.
In einem Feature für das Portal Pambazuka News schrieb Zo Randriamaro, feministische Aktivistin* aus Madagaskar, über die anhaltende Care-Krise in Afrika. Sie verwies unter anderem auf die unbezahlte Übernahme entsprechender Arbeiten durch Verwandte migrierter Care-Arbeiter_innen, die für deren zurückgelassene Angehörige sorgen – als einen Punkt unter vielen, die die Belastbarkeit unbezahlter Arbeit in der Reproduktion zunehmend an ihre Grenze bringen. Die Care-Krise sei zurückzuführen auf wachsende Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Gesellschaften hinsichtlich des Zugangs zu Care und lebensnotwendigen Gütern und auf die Priorität, die der Marktproduktion gegenüber der Reproduktion bei ökonomischen Ressourcenzuweisungen gegeben werde.11Zo Randriamaro: The hidden crisis: Women, social reproduction and the political economy of care in Africa. Pambazuka News, 06.03.2013; https://www.pambazuka.org/gender-minorities/hidden-crisis-women-social-reproduction-and-political-economy-care-africa.
Es würde also für eine wirkliche „Lösung der Care-Krise“ letztlich um nicht weniger als die Umwertung und Umverteilung geschlechtlich zugewiesener Arbeit, eine andere Ressourcenverteilung und Priorisierung bezogen auf Reproduktion und Produktion gehen, und dies insgesamt innerhalb von Gesellschaften und auf globaler Ebene . . .