Aus rassistischen Motiven waren am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen erschossen worden. Deshalb wurde am Samstag dort und in vielen anderen Städten (auch in Dortmund oder Bochum) anlässlich des zweiten Jahrestags der Morde an die Opfer erinnert.
Serpil Temiz Unvar, die ihren Sohn Ferhat Unvar durch den rassistischen Angriff verlor, veröffentlichte bereits zwei Tage vor dem Gedenktag einen offenen Brief an die Bundesregierung und den Bundespräsidenten – in dem sie schrieb, die Angehörigen hätten auf ihre Fragen noch immer keine Antworten erhalten. Fast zwei Jahre lang seien sie „von den Verantwortlichen in Hessen mit Worten vertröstet, aber doch wie Menschen zweiter Klasse behandelt“ worden. Wenn es nun „eine kleine Chance“ gebe … „dann nur, weil wir seit 2 Jahren jeden Tag kämpfen, anstatt in Ruhe trauern zu können. … Es wird keine bessere Zukunft geben, wenn das Vergangene nicht aufgeklärt wird, wenn es keine Gerechtigkeit gibt für die, die angegriffen und ermordet wurden. Denn das Vergangene lebt in uns allen fort, in den Hinterbliebenen und Zurückgelassenen, aber auch in der Geschichte unserer Gesellschaft. Und wenn wir über mangelnde Aufklärung sprechen, dann geht es um mehr als um Hanau, dann müssen wir auch über die Aufklärung der rassistischen Taten der letzten 30 Jahre sprechen.“ (Um die z. B. auch in Dortmund die Angehörigen des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık seit Jahren kämpfen, ließe sich hier hinzufügen.)
Außer um ein Erinnern geht es für die Hinterbliebenen daher um Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen aus den Morden, deren Hintergrund sich in Rassismus, Hetze (wie gegen Shisha-Bar-Wirt*innen und Gäste) oder der resultierenden Ignoranz von Sicherheits-, anderen Behörden oder Politiker*innen findet. „Rassismus, egal in welcher Form, darf nicht mehr geduldet, verharmlost oder ignoriert werden“, forderte der Jahrestagsaufruf der Initiative 19. Februar Hanau.
Doch schon die mit hochrangigen Politiker*innen besetzte Gedenkveranstaltung am Samstag in Hanau bot erneut Anlass zur Kritik. Statt ein Raum für Angehörige und Freund*innen zu sein, musste die Initiative 19. Februar im Vorfeld feststellen: „Wer eingeladen wird und wer nicht, das haben wir, die Familienangehörigen, nicht entscheiden können.“ Emiş Gürbüz, die Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz, kritisierte daher in ihrer Rede, das Land Hessen habe die Veranstaltung vereinnahmt. „Es macht mich fassungslos, dass unsere Wünsche an diesem besonderen Tag ignoriert wurden.“ Freund*innen der Getöteten wurden tatsächlich vor dem Hauptfriedhof von der Polizei abgewiesen.
Serpil Temiz Unvar hat übrigens ihre eigenen Konsequenzen längst gezogen. Ihr ermorderter Sohn bekam häufig in der Schule Sätze wie „Du schaffst es nicht!“ oder „Du wirst es nie zu etwas bringen!“ zu hören, berichtete sie. Um sich gegen solche Diskriminierungen zu wehren, gründete sie an Ferhats Geburtstag, dem 14. November 2020, die nach ihm benannte Bildungsinitiative Ferhat Unvar, die Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Eltern, die rassistische Erfahrungen im Alltag oder in der Schule machen, eine Anlaufstelle bietet.
Sorgen bereitet der Initiative noch die ungewisse Finanzierung: Dank Spenden aus der Zivilgesellschaft sei die Miete gesichert, sagte Serpil Unvar letztes Jahr im November, doch es mangele an einer stabilen staatlichen Förderung. Von dieser Seite habe es bislang fast nur warme Worte gegeben.
Ermordet aus rassistischen Beweggründen wurden am 19. Februar 2020: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.
Anschließend tötete der Täter seine Mutter (und sich selbst).