„Und außerdem haben sie uns unsere Kinder gestohlen! Und wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Das Militär hat das getan! Das Militär hat das getan!“1Redaktion El Arrebato: [VIDEO] Enriqueta Maroni, el día en que denunció al mundo los crímenes de la dictadura argentina en pleno mundial de fútbol, El Arrebato, 05.08.2025, https://elarrebato.cl/2025/08/06/video-enriqueta-maroni-el-dia-en-que-denuncio-al-mundo-los-crimenes-de-la-dictadura-argentina-en-pleno-mundial-de-futbol/.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 wurde Enriqueta Rodríguez de Maroni international bekannt, als sie Argentiniens Diktatur bei den Platzumrundungen der Madres de Plaza de Mayo (Mütter vom Mai-Platz) gegenüber einem TV-Team aus den Niederlanden anprangerte. Seit dem 30. April 1977 trafen sich die Frauen* jeden Donnerstag auf dem Platz vor dem Regierungssitz, um gegen das ‚Verschwindenlassen‘ ihrer Kinder unter der argentinischen Militärjunta zu protestieren. Ungefähr 30.000 Menschen sollen in der Zeit zwischen 1976 und 1983 entführt, gefoltert und ermordet worden sein; viele von ihnen blieben ‚desaparecidxs‘ (Verschwundene) und wurden nie gefunden.2Tagesspiegel (dpa): Menschen lebend aus dem Laderaum geschmissen: Berüchtigte „Todesflug“-Maschine nach Argentinien zurückgebracht, Tagesspiegel, 27.06.2023, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/menschen-lebend-aus-dem-laderaum-geschmissen-beruchtigte-todesflug-maschine-nach-argentinien-zuruckgebracht-10055479.html; Elisa Lorenz: Mütter der Plaza de Mayo: 40 Jahre Suche nach den Verschwundenen der Militärdiktatur, amerika21, 08.05.2017, https://amerika21.de/2017/05/175715/40-jahre-madres-plaza-de-mayo. Weil Kundgebungen im Stehen verboten waren, liefen die Madres im Kreis – ihr Symbol wurden die weißen Kopftücher, auf die sie am Anfang die Namen der Kinder stickten.

Am Dienstag vergangener Woche ist Enriqueta Rodríguez de Maroni gestorben, ebenso wie Dolores „Lolín“ Rigoni, letztes Mitglied der Madres der Sektion Neuquén y Alto Valle (im südlicheren Teil Argentiniens). Enriqueta Maroni, die lange Zeit als Lehrerin arbeitete und zwischen 2022 und 2024 Präsidentin der Madres de Plaza de Mayo Línea Fundadora war, wurde 98 Jahre alt, Dolores Noemí López Candán de Rigoni starb in Neuquén im Alter von 100 Jahren. 1977 waren eine Tochter und ein Sohn Enriquetas ‚verschwunden‘ genauso wie ein Sohn Lolíns, dessen Leiche der Familie letztlich vier Jahre später zurückgegeben wurde.3Murió Enriqueta Maroni, histórica Madre de Plaza de Mayo que denunció a la dictadura en el Mundial 78, La Izquierda Diario, 05.08.2025, https://www.laizquierdadiario.com/Murio-Enriqueta-Maroni-historica-Madre-de-Plaza-de-Mayo-que-denuncio-a-la-dictadura-en-el-Mundial; A los 100 años murió Lolín Rigoni, la última Madre de Plaza de Mayo de Neuquén y Alto Valle, La Izquierda Diario, 05.08.2025, https://www.laizquierdadiario.com/A-los-100-anos-murio-Lolin-Rigoni-la-ultima-Madre-de-Plaza-de-Mayo-de-Neuquen-y-Alto-Valle. Auch die Protestierenden selbst waren bald gefährdet: Im Dezember 1977 wurden zwei der Madres aus einer Kirche entführt und zwei Tage später wurde Azucena Villaflor verschleppt, eine der Initiatorinnen* der Runden auf der Plaza de Mayo. Erst im Juli 2005 wurden ihre Leichen gefunden und identifiziert.4Victoria Eglau: Der Diktatur die Stirn geboten, Deutschlandfunk Kultur, 30.04.2007, https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-diktatur-die-stirn-geboten-102.html.
Aus der Organisation der Mütter ging bereits im Oktober 1977 die Gruppe der Abuelas (Großmütter) de Plaza de Mayo hervor, die nach Enkelkindern suchen, die von entführten Schwangeren unter anderem in Folterzentren geboren wurden. Auch Kleinkinder wurden mit ihren Eltern verschleppt und ebenso wie die Neugeborenen zur Adoption freigegeben. Fast 140 der geschätzt ungefähr 500 gesuchten Enkel konnten bereits gefunden werden.5Jürgen Vogt: Großmütter der Plaza de Mayo finden 138. Enkelkind, die tageszeitung, 28.12.2024, https://taz.de/Opfer-der-Militaerdiktatur/!6059233/. Eine weitere Suche ist aber enorm erschwert: Unter dem ultrakonservativen Präsidenten Milei, der an einer Relativierung und Umdeutung der Geschichte arbeitet, wurden für Gedenkstätten, Archive und Datenbanken Personal und finanzielle Mittel gestrichen.6Christian Dürr: Regierung von Argentinien zerstört Institutionen der Erinnerungspolitik, amerika21, 07.07.2024, https://amerika21.de/2024/07/270369/argentinien-institutionen-erinnerung; CELS/Memoria Abierta: Argentinien: Angriff auf die Erinnerungskultur – Rechtslibertäre legitimieren die Diktatur, Heinrich-Böll-Stiftung, 11.12.2024, https://www.boell.de/de/2024/12/11/argentinien-angriff-auf-die-erinnerungskultur-rechtslibertaere-legitimieren-die-diktatur.
Was während der Entwicklung der Madres (wie so häufig) nicht ausblieb, war eine Spaltung entlang politischer Differenzen. 1986 trennten sich die Madres de Plaza de Mayo Línea Fundadora, unter anderem mit Enriqueta Rodríguez de Maroni, von der Asociación Madres de Plaza de Mayo: Ein Teil der Mütter machte der damaligen Präsidentin der Madres, Hebe de Bonafini, ihren Führungsstil zum Vorwurf – während diese sich die Madres als politischere und weniger als ausschließliche Menschenrechtsorganisation wünschte.7Jürgen Vogt: Zum Tod Hebe de Bonafinis: Lichtgestalt mit Schattenseiten, die tageszeitung, 21.11.2022, https://taz.de/Zum-Tod-Hebe-de-Bonafinis/!5896306/.
Obwohl ihre traditionellen Rollen Ausgangspunkt der Kämpfe der Mütter und Großmütter waren, sind sie durch ihren mutigen Widerstand und ihr unermüdliches Engagement Vorbilder für heutige feministische Bewegungen. Aus der starken Tradition dieses Aktivismus in Argentinien ist unter anderem Ni Una Menos (Nicht eine weniger) entstanden, die Initiative gegen gegen misogyne Gewalt, die sich über den gesamten Kontinent verbreitet hat. Auch die grünen Tücher während der Proteste gegen die Abtreibungsverbote sollen auf die weißen Kopftücher der Madres de Plaza de Mayo zurückgehen.
„Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“8Peter Burghardt: Fußball-Historie: Jubel in Hörweite der Folterkammern, Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010, https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-historie-jubel-in-hoerweite-der-folterkammern-1.218882; Peter Ahrens: Fußball-WM und Politik: Schweigen oder reden, Der Spiegel, 13.06.2018, https://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-wm-1978-in-argentinien-in-der-militaerdiktatur-schweigen-oder-reden-a-1212442.html.
Übrigens störte der Austragungsort im Folterstaat Argentinien bei der Weltmeisterschaft 1978 die deutsche Fußballmannschaft überhaupt nicht. DFB-Präsident Hermann Neuberger empfing den früheren Wehrmachtsoffizier Hans-Ulrich Rudel, der sich nach Südamerika abgesetzt und ein Netzwerk alter Nazis um sich gesammelt hatte, im Trainingslager der Mannschaft. Und Kapitän Berti Vogts lobte nach der Rückkehr Argentinien als „ein Land, in dem Ordnung herrscht“.