Zwischen Pflegenotstand, Migration, Flucht

Die Pflegebranche leidet unter einem gravierenden Fachkräftemangel, der sich demografisch weiter zuspitzt. Schon heute würde die Pflegebranche ohne ausländische Pflegekräfte kollabieren, denn fast jede vierte Pflegekraft im Altenheim hat eine andere Staatsangehörigkeit.1Presseinfo Nr. 21: Tag der Pflege: Neue Pflegekräfte kommen vor allem aus dem Ausland, Bundesagentur für Arbeit, 09.05.2025, https://www.arbeitsagentur.de/presse/2025-21-tag-der-pflege-neue-pflegekraefte-kommen-vor-allem-aus-dem-ausland.

Über diesen hohen Anteil migrantischer (und wohl auch postmigrantischer) Pflegekräfte in Seniorenheimen berichtete die Bundesagentur für Arbeit in einer Presseinformation am 09. Mai 2025 mit Blick auf den bevorstehenden Tag der Pflege am 12. Mai2Der Tag der Pflege erinnert an den Geburtstag (12. Mai 1820) von Florence Nightingale, Begründerin einer moderneren Krankenpflege..
„Ohne Fachkräfte aus dem Ausland würde die Pflege in Deutschland zusammenbrechen“, schrieb auch der Tagesspiegel3Caspar Schwietering: Weniger Bürokratie, mehr Kompetenzen: Mit diesen Schritten will Schwarz-Rot den Pflegenotstand bekämpfen, Tagesspiegel, 06.08.2025, https://www.tagesspiegel.de/politik/pfleger-bekommen-mehr-kompetenzen-wie-die-bundesregierung-den-personalmangel-beheben-will-14135369.html. Anfang August, aber vor dem Hintergrund der Situation in den Krankenhäusern.
Personalmangel, Arbeitsverdichtung und Stress prägen die Pflegetätigkeiten. Die Ökonomisierung der Care-Betriebe, also die Ausrichtung auf Effizienz- und Produktivitätssteigerung und Kostensenkung, steht einer Qualitätsversorgung entgegen; das hat etwa zur Folge, dass für die Kommunikation mit gepflegten/betreuten Personen – eine wichtige Bedingung– kein Zeitbudget vorhanden ist. Arbeitssituation, fehlende Wertschätzung, niedrige Entlohnung führen zu einem Personalmangel, der Prognosen zufolge in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. Im Kontext eines globalen Care-Gefälles werden deshalb von hier aus verstärkt Fachkräfte in anderen Ländern angeworben – d. h. reproduktive Arbeiten dort werden unter Umständen verlassen und notwendige wie Kinderbetreuung Verwandten übertragen.

„Jede vierte Pflegekraft im Altenheim hat eine andere Staatsangehörigkeit“ – damit lässt sich auch schon einmal werben, obwohl sichtlich eher am Rand.

Trotzdem: Tetine Solange Niyibizi aus Burundi, die in Peine lebt und dort seit einem guten Jahr in einem Pflegeheim arbeitete, soll bald abgeschoben werden. „Von heute auf morgen mussten wir sie freistellen“, beklagte die stellvertretende Pflegeeinrichtungsleiterin Anfang August. „Sie ist sehr gut eingearbeitet, und wir bräuchten sie dringend – gerade jetzt in der Urlaubszeit.“4Sabine Hausherr:Trotz guter Integration: Pflegehelferin aus Peine wird abgeschoben, NDR, 08.08.2025, https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/trotz-guter-integration-afrikanische-pflegehelferin-aus-peine-wird-abgeschoben,asyl-288.html. „Zwischen Pflegenotstand, Migration, Flucht“ weiterlesen

(Mehr als) hart an der Grenze

Wir erinnern uns: Grenzen sind Produkte einer sich entwickelnden Nationalstaatlichkeit im 18./19. Jahrhundert und des Kolonialismus. „Grenzen sind soziale Konstrukte“, machte mit Blick auf die durch die Ampel-Regierung (also Dobrindts/Merz‘ Vorgänger*innen) ausgeweiteten Grenzkontrollen Sarah Frenking im Oktober 2024 in der tageszeitung deutlich; deshalb mussten die Linien erst hergestellt und Menschen als verschieden markiert werden: „Als 1888 an der deutsch-französischen Grenze aufgrund außenpolitischer Spannungen eine Passkontrolle eingeführt wurde, folgten aufgebrachte Reaktionen. Die Grenzpolizei prüfte die Staatsangehörigkeit von Reisenden, die diese jedoch oft nicht einmal selbst kannten.“1Sarah Frenking: Historie der deutschen Grenze: Grenzen sind so 19. Jahrhundert, die tageszeitung, 04.10.2024, https://taz.de/Historie-der-deutschen-Grenze/!6036958/.
Im abgegrenzten Staatsinneren waren Bürger, die die öffentliche Entscheidungssphäre besetzten, männlich, oft mit einigem Vermögen, und weiblichen oder feminisierten Personen wurde die angezeigte Rationalität qua Biologie abgesprochen. Gleichzeitig waren die neuen Zugehörigkeiten familiaristisch angelegt; Frauen* wurden in Nationsdiskursen als Reproduzentinnen* einer nationalen Familie imaginiert.

Eine Frau hält ein an Ballons befestigtes Transparent hoch: RISE UP AGAINST BORDERS

Grenzen (re-)produzieren also entsprechende Zuschreibungen und Hierarchisierungen.

Grenzkontrollen haben, trotz der Feiern zum 40. Jahrestag des Schengener Übereinkommens2DW (wa/fab (epd, dpa)): 40 Jahre „Schengen“: Abkommen „teilweise mit Füßen getreten“, Deutsche Welle, 14.06.2025, https://www.dw.com/de/40-jahre-schengen-abkommen-teilweise-mit-füßen-getreten/a-72910242., das die europäischen Binnengrenzen öffnen sollte, gerade wieder Hochkonjunktur. Die von Bundesinnenminister Dobrindt bei den Kontrollen angeordnete Zurückweisung Schutzsuchender – die europäisches Recht bricht, was von vornherein bekannt war3Unter anderem: Constantin Hruschka: Dobrindts Rechtsbruch. Warum die aktuellen Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind, Verfassungsblog, 15.05.2025, https://verfassungsblog.de/zuruckweisung-grenze-kontrolle-dobrindt/; Daniel Heymann/Jan Henrich: Zurückweisungen: Ist Merz ungenau?, ZDFheute, 10.02.2025, https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/tv-duell-merz-asylrecht-zurueckweisungen-100.html. – wurde zwar gerichtlich inzwischen für rechtswidrig erklärt. Aber nach den Entscheidungen4Hier sind die Entscheidungen: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001609913; https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001609914; https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001609915. des Verwaltungsgerichts Berlin, dass drei jungen somalischen Asylsuchenden Recht gegeben hatte, zeigte sich Minister Dobrindt trotzig: Wir halten an den Zurückweisungen fest.“5 Stefanie Witte/Jost Müller-Neuhof: „Wir halten an den Zurückweisungen fest“: Dobrindt will trotz Gerichtsentscheidung harten Migrationskurs fortsetzen, Tagesspiegel, 02.06.2025, https://www.tagesspiegel.de/politik/gericht-erklart-zuruckweisungen-fur-rechtswidrig-was-die-entscheidung-fur-merz-harten-migrationskurs-bedeutet-13791757.html.

Doch das Verwaltungsgerichtsurteil war offensichtlich nicht – wie die Merz-Regierung jetzt gern behauptet – auf drei Einzelfälle bezogen, sondern „die zuständige Einzelrichterin hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Entscheidung der gesamten Kammer übertragen“6Maximilian Pichl: Zurückweisungen vor Gericht, Verfassungsblog, 03.06.2025, https://verfassungsblog.de/zuruckweisungen-gericht-migration-asyl/; auch zur grundsätzlichen Bedeutung: Heinrich Wefing (Interview mit der Präsidentin des Verwaltungsgerichts Berlin Erna Viktoria Xalter): „Hier soll ein einzelner Richter gezielt diffamiert werden“, ZEIT ONLINE, 06.06.2025, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-06/verwaltungsgericht-berlin-asyl-abweisung-grenze-erna-viktoria-xalter/komplettansicht; Frank Bräutigam: Beschluss zu Zurückweisungen: Mehr als eine „Einzelfallentscheidung“, Tagesschau, 03.06.2025, https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/zurueckweisungen-dobrindt-rechtslage-100.html. und die Grundsätzlichkeit wurde ebenfalls im Text betont.

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Nachtrag: wie weiter im Sudan?

Letzte Woche war die Situation im Sudan an einen kritischen Punkt gelangt. Mittlerweile werden die Verhandlungen um die Übergangsphase zwischen dem zurzeit herrschenden Militär und der zivilen Opposition jedoch wieder fortgesetzt. Diese Gespräche waren am Donnerstag vom Militärrat ausgesetzt worden. Und bereits letzten Montag waren in Khartum tödliche Schüsse auf Protestierende abgegeben worden. „Augenzeugen sind sich sicher: Die Schützen trugen die Uniformen der Rapid Support Forces (RSF), die schon seit Wochen mit ihren Geländewagen, auf denen schwere Maschinengewehre montiert sind, in den Straßen der Hauptstadt Khartum patrouillieren“, wurde in der Frankfurter Rundschau berichtet. Weitere Demonstrant*innen waren dann am Mittwoch letzter Woche bei einem ähnlichen Angriff verletzt worden. Der Militärrat hatte zuvor die Beseitigung von Straßenblockaden verlangt, die Protestierende errichtet haben, um den Druck aufrechtzuerhalten. Von einer Verantwortung für die bewaffneten Angriffe will er aber nichts wissen.

Allerdings ist der Kommandant der beschuldigten Rapid Support Forces, Mohamed Hamdan Dagalo („Hemiti“ oder in anderer Schreibweise „Hamiti“ genannt), der Vizechef des Militärrats. Seine (mittlerweile) mit der regulären Armee assoziierten RSF sind aus den berüchtigten Janjaweed-Milizen hervorgegangen, die in der Region Darfur für grausame Verbrechen verantwortlich gemacht werden und zurzeit unter anderem Söldnertruppen in Saudi-Arabiens Krieg im Jemen schicken. Außerdem sind sie inzwischen für die Überwachung der Grenzen zu Libyen, Ägypten und Tschad zuständig, auch um – im Auftrag der Europäischen Union – Migration in Richtung Europa zu unterbinden. Durch diesen als Khartum-Prozess bezeichneten Deal mit der EU, der dem sudanesischen Regime 200 Millionen Euro eingebracht haben soll und in dem Deutschland der Deutschen Welle zufolge eine federführende Rolle gespielt hat, sind im Sudan Flüchtlinge und Migrant*innen brutalen Menschenrechtsverletzungen durch die RSF ausgeliefert. „Nachtrag: wie weiter im Sudan?“ weiterlesen

Feministinnen* kennen kein „Vater“land!

In diesem Jahr haben Teile des Mainstream-Feminismus das Thema Flüchtlingsfrauen entdeckt. In der Oktober-Ausgabe von Emma findet sich daher ein „geschlechtsspezifischer Forderungskatalog“, in dem Emma formuliert, was „JETZT PASSIEREN“ müsse.

Auf den ersten Blick scheinen die Forderungen zumindest nicht zu schaden, auch wenn alle, die schon länger gemeinsam mit Flüchtlingsfrauen* für eine Verbesserung ihrer Situation kämpfen, viele Forderungen vermissen – zum Beispiel die Forderung nach Abschaffung des entwürdigenden Asylbewerberleistungsgesetzes oder die Forderung nach privatem Wohnraum für alle und nach Abschaffung der Sammelunterkünfte bzw. der Lagerunterbringung – also die Maßnahmen, die Flüchtlingsfrauen* selbst seit langem zu ihrem Schutz einfordern. Vor allem in Bezug auf Asylverfahren bleiben die Forderungen reichlich inhaltslos, so dass sich die Frage aufdrängt, ob es Emma tatsächlich darum geht, die Situation asylsuchender Frauen zu verbessern.
Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, was die eigentliche Absicht hinter diesen alarmistischen Forderungen ist: Tatsächlich geht es darum, asylsuchende Männer* als Täter in den Fokus zu nehmen. Denn so erfahren wir an anderer Stelle in derselben Ausgabe der Emma: „Denn eines ist doch klar: Viele der überwiegend jungen Männer, die da jetzt zu uns kommen, sind bisher noch nicht einmal von einem Hauch Gleichberechtigung der Geschlechter gestreift worden. Sie kommen aus Kulturen wie dem Islam, in denen Frauen als minderwertig gelten (..). Sie sind überwiegend Araber, bei denen es, unabhängig vom Glauben, traditionell schlecht bestellt ist um die Frauenrechte. Und sie kommen aus (Bürger)Kriegsgebieten, in denen sie Opfer oder Täter waren, und so manches Mal auch beides zugleich.
Gegen die soll nun in aller Härte vorgegangen werden. „Täter müssen konsequent verfolgt werden, auch wenn sie selber gleichzeitig Opfer sind.“ Und wie – darüber denkt Emma dann auch gleich nach: „Es stellt sich die Frage, ob solche Verstöße (Übergriffe auf Frauen bzw. Kinder und Verstöße gegen unsere Gesetze) auch ein Grund für die Ablehnung des Asylgesuchs sein können.“ „Feministinnen* kennen kein „Vater“land!“ weiterlesen

Straßensexarbeit: Dortmunds Berufsverbotsbezirk

Der Straßenstrich in Dortmund wurde im Mai 2011 geschlossen und das gesamte Stadtgebiet zum Sperrbezirk für die Straßenprostitution erklärt. Im März 2013 gab das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einer Sexarbeiterin, die gegen den Verlust ihrer Existenzgrundlage geklagt hatte, Recht und entschied, Straßenprostitution müsse in Dortmund möglich bleiben. Statt sich danach mit Beteiligten und Interessenverbänden zusammenzusetzen und einen neuen Strichstandort einzurichten, ging die Stadt Dortmund in Berufung. Das Oberverwaltungsgericht Münster als nächste Instanz hat gestern die Klage der Sexarbeiterin abgewiesen und das Verbot durch die Stadt bestätigt.

Sexarbeiter_innen-Demonstration gegen die Straßenstrich-Schließung
Sexarbeiter_innen-Demonstration für den Straßenstrich-Erhalt in Dortmund im März 2011

Richterlich begründet wurde die Entscheidung nun mit den Lebensverhältnissen anderswo in Europa und der (eventuell weiterhin drohenden) weiblichen Migration. „Die Lebensumstände in der bulgarischen Stadt Plovdiv haben sich nicht geändert“, erklärte Richterin Ricarda Brandts den Ruhr-Nachrichten zufolge.1Jörn Hartwich: Straßenstrich bleibt verboten. Gericht weist Klage gegen Stadt Dortmund ab / Ministerium kritisiert Sperrbezirk. Ruhr Nachrichten, 12.08.2015. Trotz der europäischen Freizügigkeit wird in dieser Logik die Überschreitung der Staatsgrenze zur (zumindest) unerwünschten Tat. Die Begründung sei „höchst bemerkenswert“, meint der lawblog. Demnach stehe in ganz (!) Dortmund laut Stadtverwaltung und Bezirksregierung Arnsberg kein einziges Gebiet zur Verfügung, das einen Straßenstrich „verkraften“ könne. Und weil die Zahl der Sexarbeiterinnen in dem Marktsegment stark zugenommen habe, hielte das Gericht „die Annahme für gerechtfertigt, ein solcher Straßenstrich werde egal an welcher Stelle immer auch schutzbedürftige Gebiete räumlich betreffen“2Lawblog: Dortmund bleibt „sauber“. 11.08.2015, https://www.lawblog.de/index.php/archives/2015/08/11/dortmund-bleibt-sauber/. – in der siebtgrößten Stadt der BRD. Der Rechtsanwalt der gegen das Verbot klagenden Sexarbeiterin wies darauf hin, dass das Interesse der Frauen* in den Erwägungen der Behörden keine Rolle spiele. Gegenüber Spiegel Online kündigte er an, in die nächste Instanz und damit vor das Bundesverwaltungsgericht ziehen zu wollen.3Spiegel online: Verbot von Straßenprostitution in Dortmund: Gegen den Strich. 11.08.2015; http://www.spiegel.de/panorama/justiz/dortmund-gericht-bestaetigt-verbot-des-strassenstrichs-a-1047630.html. „Straßensexarbeit: Dortmunds Berufsverbotsbezirk“ weiterlesen