An der Grenze des Weißseins?

In einem Beitrag auf der Plattform LeftEast beschäftigt sich Olena Lyubchenko unter dem Titel An der Grenze des Weißseins? Enteignung, Krieg und soziale Reproduktion in der Ukraine mit der (zurzeit populären) Gleichsetzung von „Ukrainischsein“ mit „Europäischsein“ und „Weißsein“ (weiß im Sinne einer rassifizierten Positionierung in westlichen, rassistisch strukturierten Gesellschaften).

Obwohl die Autorin selbst von einer „kurzen Reflexion“ spricht, ist der Text ziemlich lang; die Übersetzung unten ist deshalb um einige Absätze gekürzt (insbesondere um den einleitenden Teil). Die englische Originalversion ist hier: On the Frontier of Whiteness? Expropriation, War, and Social Reproduction in Ukraine. Die Links aus dem Originaltext und die Fußnoten sind – bei den Fußnoten durch die Kürzungen mit anderer Nummerierung – in den übersetzten Text übernommen.

Da Olena Lyubchenko aus der Perspektive eines „Feminismus der sozialen Reproduktion“ schreibt, sind Frauen* hier die, die aufgrund einer naturalisierten geschlechtlichen Verantwortungszuschreibung Sorge- bzw. soziale Reproduktionsarbeit leisten (das können natürlich auch andere Geschlechter, keine Frage). Die Militarisierung und Kriegsanstrengungen „von oben durch den Staatsapparat“ kritisiert sie als in kapitalistisch-imperialistische Interessen eingebunden, die u. a. zu verstärkter Prekarisierung insbesondere der feminisierten Reproduktionsarbeit geführt haben. Positiv bezieht sie sich dagegen auf einen ukrainischen Widerstand gegen die russische Agression, den sie als Kampf um Selbstbestimmung der Bevölkerung in der Ukraine begreift.

Das nur kurz vorweg, weil nun ein bisschen fehlt. Die Übersetzung setzt unten mit aktuelleren Auswirkungen der Konstruktionen ‚weiß‘/‚nichtweiß’ ein – dem rassistischen Umgang mit Flüchtenden mit anderer als ukrainischer Staatsangehörigkeit.


Gute Europäer*innen

In den ersten Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine konnte die Welt die rassistische Gewalt an den Grenzen der Ukraine zu Polen, Rumänien und Ungarn mitverfolgen. Flüchtlinge aus Afrika, Südasien oder dem Nahen Osten sowie ukrainische Rom*nja und Tausende internationaler Student*innen, die in der Ukraine studierten und arbeiteten, wurden an der Grenzüberquerung gehindert. Manchmal wurden sie sogar von Ukrainer*innen, die Menschenketten bildeten, daran gehindert Züge zu besteigen, die Flüchtende in die EU brachten. Journalist*innen, die von der Grenze berichteten und blau-gelbe Anstecknadeln trugen, prangerten diese Diskriminierung kurz an und wechselten dann schnell zu Bildern ukrainischer Kinder, die von freundlichen deutschen Freiwilligen Spielzeug bekamen. „Gestrandete indische Studierende sahen zu, wie ukrainische Haustiere über die Grenze in Sicherheit gebracht wurden“, lautete eine Schlagzeile. In Nordamerika und Westeuropa servierten Restaurants ukrainische Gerichte und spendeten den Erlös für die Kriegsanstrengungen in der Ukraine, während Einkaufszentren in Blau und Gelb erleuchtet wurden. Auf der Website des Tech-Giganten Amazon gibt es jetzt eine Schaltfläche „Helfen Sie den Menschen in der Ukraine“. Einige der größten Wohnungsunternehmen in Kanada – die während der Pandemie Arbeiter*innenhaushalte räumen ließen und gleichzeitig die Miete für bereits unzureichenden Wohnraum erhöhten – haben ‚sich verbündet‘, um den nach Kanada fliehenden Ukrainer*innen kostenlose und subventionierte Wohnmöglichkeiten anzubieten. Die Medien und westliche Politiker*innen haben entschieden, dass Ukrainer*innen ‚gute‘, ‚europäische‘ Bürger*innen sind, die wertvoll sind, gebildet, IT-Fachkräfte. Rassismus wurde nicht als strukturelles Problem behandelt, sondern als schlechtes Benehmen.

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Zwangsgeheimhaltung

Nach einer Pressemittteilung des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) von Montag ist einem aus Pakistan geflüchteten schwulen Mann trotz der dortigen drastischen Gesetze eine Abschiebung angekündigt worden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war einem Bescheid von Februar zufolge bei der Prüfung von Abschiebehindernissen für den Geflüchteten zu dem Schluss gelangt, er müsse schließlich seine Homosexualität in Pakistan nicht offen leben. Es scheint dem BAMF auch weiterhin egal zu sein, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits 2013 festgestellt hatte, es dürfe von Asylantragstellenden keine Geheimhaltung oder Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Orientierung im Herkunftsland verlangt werden, um einer Verfolgungsgefahr zu entgehen. Und dass das mittlerweile auch das Bundesverfassungsgericht bekräftigt hat.

„In dem genannten Fall führt die BAMF-Entscheiderin sogar aus, dass ein öffentliches Leben als schwuler Mann in Pakistan gefährlich ist. Im Verfolgerstaat Pakistan kann Homosexualität mit der Todesstrafe1Zur gesetzlichen Lage in Pakistan gibt Schweizer Flüchtlingshilfe an (11.06.2015): „Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen sind in Pakistan gesetzlich verboten. … Der Artikel 377 legt fest, dass freiwilliger und ‚unnatürlicher‘ Geschlechtsverkehr mit einem Mann, einer Frau oder einem Tier mit Haft von mindestens zwei Jahren bis lebenslänglich sowie mit einer Busse bestraft wird. Häufig werden zwei weitere Gesetzesartikel angewendet, um Homosexuelle strafrechtlich zu verfolgen. Es handelt sich dabei um den Artikel 294, der ‚obszöne Tänze und Lieder‘ unter Strafe stellt sowie Artikel 295, ein Gesetz gegen Blasphemie. Gemäss dem 1990 eingeführten Scharia-Gesetz werden homosexuelle Handlungen mit Peitschenhieben, Haft oder mit dem Tod bestraft.“ geahndet werden. Die eigentliche Unverschämtheit des Bescheids besteht in der zentralen Begründung der Entscheiderin, die sogar Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung ist. Aus ihrer Sicht sei es dem Mann kein inneres Bedürfnis, seine Homosexualität öffentlich auszuleben. Dies begründet sie damit, dass er seine Homosexualität aus Angst auch in Deutschland verbirgt. Einem schwulen Mann den Wunsch nach einem offenen Umgang mit seiner Homosexualität abzusprechen, weil er – während er in einer Flüchtlingssammelunterkunft wohnt und noch nicht weiß, ob er nicht bald nach Pakistan abgeschoben wird – geheim lebt, widerspricht dabei nicht nur jedem gesunden Menschenverstand, sondern selbst den eigenen europarechtswidrigen aber weiterhin geltenden internen Vorgaben des BAMF“, erklärt der LSVD.

Stop deportation for LGBTIQ*
Hamburg 2018 – Demonstration „Welcome United“
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„Diese Gleichgültigkeit ist unser Hauptproblem“

Jelena Osipova (Елена Осипова – der Name findet sich auch in den Transliterationen Yelena/Elena Ossipowa), 76 Jahre alt und Kunstpädagogin im Ruhestand im russischen Sankt Petersburg, protestiert mit ihren kreativen Plakaten weiterhin (nicht nur) gegen den Ukrainekrieg.
Ihr persönliches Engagement begann vor ungefähr 20 Jahren durch den Tschetschenienkrieg, die Geiselnahme im Dubrowka-Theater in Moskau 2002 sowie später die Geiselnahme von Beslan 2004, die beide mit hohen Opferzahlen endeten. Seit zwei Jahrzehnten macht sie damit ihre Überzeugungen öffentlich. Nachdem damals ein Betäubungsgas in das Moskauer Theater geleitet und der Saal gestürmt worden war, schrieb sie auf Plakatkarton „Herr Präsident, ändern Sie sofort den Kurs“ und stellte sich zum ersten Mal mit einem handgeschriebenen Poster auf einen öffentlichen Platz.
Auch nach dem Angriff auf Ukraine Ende Februar trug Jelena Osipova, wie oft in den vergangenen Jahren, ihre Protestplakate auf die Straße – wie sie erzählt, nun mit mehr Zuspruch als sonst – und wurde deswegen (erneut) mehrmals kurzzeitig in Gewahrsam genommen.

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„eine Gesellschaft, in der militärische Konflikte keinen Platz haben“

Russische feministische Gruppen haben als in etlichen Städten Russlands vernetzter Feministischer Widerstand gegen den Krieg Ende Februar ein Manifest gegen den Ukraineangriff verfasst. In der Erklärung (ein Zugang zu Übersetzungen in mehrere Sprachen und anderen Veröffentlichungen ist hier) heißt es unter anderem:

„… Feminismus als politische Kraft kann nicht auf der Seite eines Angriffskrieges und einer militärischen Besatzung stehen. Die feministische Bewegung in Russland kämpft für benachteiligte Gruppen und die Entwicklung einer gerechten, gleichberechtigten Gesellschaft, in der Gewalt und militärische Konflikte keinen Platz haben dürfen.
Krieg bedeutet Gewalt, Armut, Zwangsvertreibung, zerstörte Leben, Unsicherheit und fehlende Zukunft. Er ist unvereinbar mit den grundlegenden Werten und Zielen der feministischen Bewegung. Krieg verschärft die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und wirft menschenrechtliche Errungenschaften um viele Jahre zurück.

Der gegenwärtige Krieg wird, wie Putins Ansprachen zeigen, auch unter dem Banner jener von Regierungsideologen verkündeten ‚traditionellen Werte‘ geführt, die Russland in der ganzen Welt missionarisch zu verbreiten vorgibt, indem es Gewalt gegen diejenigen anwendet, die sich weigern, diese Werte zu akzeptieren oder andere Ansichten vertreten. Alle, die zu kritischem Denken fähig sind, verstehen, dass zu diesen ‚traditionellen Werten‘ die Ungleichheit der Geschlechter, die Ausbeutung der Frauen und die staatliche Unterdrückung von Menschen gehören, deren Lebensweise, Selbstverständnis und Handeln solch engen patriarchalischen Normen nicht entsprechen. …“

9 Tage Haft für Protest in Jekaterinburg
In Jekaterinburg wurde eine feministische Aktivistin* wegen Organisation einer „Women in Black“-Mahnwache (dunkelgekleidete Frauen* mit weißen Rosen) zu neun Tagen Haft verurteilt. Festnahmen wegen ähnlichen Protesten fanden auch an anderen Orten statt. (Bild: @fem_antiwar_resistance)
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deeds not words

Ungefähr 150 Suffragetten zerstörten am 1. März 1912 gegen halb sechs Uhr nachmittags mit Hämmern und Steinen die Schaufenster in mehreren Straßen des Einkaufsviertels im Londoner Westend. Die Aktion vor 110 Jahren war der Auftakt einer von der Women’s Social and Political Union (WSPU) organisierten Kampagne der zerschlagenen Fensterscheiben, um ihrer Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen* Nachdruck zu verleihen. Sie wurde in den folgenden Tagen fortgesetzt, traf auch Regierungsgebäude und in der Folge befanden sich Ende März 1912 über 200 Frauen* im Gefängnis.
Die WSPU war 1903 in Manchester unter Federführung von Emmeline Pankhurst gegründet worden, die ebenfalls Mitglied der Independent Labour Party (ILP) war, aber das Engagement der Partei für Frauen*rechte als nicht ausreichend betrachtete. Entsprechend war die Gründung von aktiven Arbeiterinnen* und Mitgliedern der ILP, aber auch von ihren Töchtern Christabel und Sylvia unterstützt worden.

Annie Kenney und Christabel Pankhurst
Die Suffragetten Annie Kenney und Christabel Pankhurst
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Militärputsch im Sudan: Frauen*proteste und Repression

Im Sudan sind am vergangenen Sonntag Sicherheitskräfte (wieder einmal) brachial gegen die massiven Proteste vorgegangen, mit denen sich die Bevölkerung weiterhin gegen den im Oktober stattgefundenen Militärputsch wehrt. Das Datum dieses Sonntags – der 19. Dezember – gilt nicht nur als Jahrestag der „Dezemberrevolution“, die schließlich zum Sturz des diktatorischen Langzeitpräsidenten Omar al-Bashir führte (und in der Sudans Frauen* eine tragende Rolle spielten). Ebenfalls hatte Sudans Parlament am 19. Dezember 1955 die Unabhängigkeit von Großbritannien erklärt; die Beteiligung an den Demonstrationen am Sonntag ist (auch deswegen) enorm hoch gewesen.1Khalid Abdelaziz/Nafisa Eltahir: Hundreds of thousands march to Sudan presidential palace in protest against coup, Reuters, 20.12.2021, https://www.reuters.com/world/africa/security-forces-deploy-sudans-khartoum-against-planned-post-coup-protests-2021-12-19/.
Mitte 2019 hatten sich im Anschluss an al-Bashirs Absetzung der Militärrat und die sudanesische Opposition auf die Bildung einer gemeinsamen Übergangsregierung geeinigt, gegen deren zivile Mitglieder die Streitkräfte nun vor ungefähr drei Monaten geputscht haben, um die Macht im Sudan allein zu übernehmen. Nach darauffolgenden Massenprotesten mit Forderungen nach einer ausschließlich zivilen Regierung durfte zwar im November der zivile Regierungschef Abdalla Hamdok sein Amt wieder übernehmen. Andere Positionen waren jedoch bereits neu besetzt worden, wie es der Putschistengeneral für opportun hielt2Johannes Dietrich: Sudan: „Das ist eine Konterrevolution“, Frankfurter Rundschau, 12.11.2021, https://www.fr.de/politik/sudans-militaerchef-setzt-sich-an-spitze-von-uebergangsrat-91112828.html., und die Vereinbarung mit Hamdok wurde vielfach als Versuch gesehen, den Coup d’Etat zu legitimieren. Daher haben daraufhin nicht nur elf Minister*innen, die vor dem Putsch Teil der Übergangsregierung waren, demonstrativ ihren Rücktritt erklärt311 Sudan Ministers resign as ‘Hamdok agreement legitimises military coup regime’, Dabanga, 23.11.2021, https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/11-sudan-ministers-resign-as-hamdok-agreement-legitimises-military-coup-regime., sondern auch die Straßenproteste haben nicht aufgehört.

Auf ihrem Blog beschreibt die Initiative Sudanese Women Rights Action nun die Vorgänge am Sonntag und fordert (gemeinsam mit zwei weiteren Frauen*-Organisationen) eine unabhängige Untersuchung, insbesondere der sexualisierten Angriffe auf Protestbeteiligte.
„Tausende von Demonstrant*innen erreichten den Präsidentenpalast in Khartum und kündigten ein Sit-in an. Die vereinten Sicherheitskräfte begannen, Protestteilnehmer*innen vor dem Palast mit Tränengas, scharfer Munition und Schlagstöcken anzugreifen. Medizinisches Personal und Ambulanzen wurden daran gehindert, sich in Bewegung zu setzen, um verletzte Personen zu bergen, während Protestierende, besonders Frauen, von Bereitschaftspolizei und Reservestreitkräften festgesetzt wurden. Dutzende demonstrierender Frauen waren während des gewaltsamen Vorgehens Schlägen, sexuellen Belästigungen und Beschimpfungen ausgesetzt. Dutzende demonstrierender Frauen berichteten, dass sie von Männern in Polizei-, Militäruniform und Uniform der Rapid Support Forces verbal und sexuell angegriffen und ausgeplündert wurden. … Die Führung der Widerstandsbewegung seit der Revolution von 2018 durch die sudanesischen Frauen hat in den letzten drei Jahren auf festen Füßen gestanden. Diese systemischen Angriffe durch Kräfte der Regierung gegen weibliche Protestierende haben das Ziel, Frauen daran zu hindern, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen. …“
Auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat mittlerweile eine Untersuchung der dreizehn bekannt gewordenen Vergewaltigungen und anderen Gewaltakte von Sonntag gefordert, die zudem zur Tötung von zwei Personen und etwa 300 Verletzten geführt haben.4Sudan protests: UN High Commissioner decries reports of rape, harassment, Dabanga, 21.12.2021, https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/sudan-protests-un-high-commissioner-decries-reports-of-rape-harassment; Emma Farge (Genf)/Nafisa Eltahir/Khalid Abdelaziz (Khartum): UN reports 13 rape allegations during Sudan protests, Reuters, 21.12.2012, https://www.reuters.com/world/africa/un-reports-13-rape-allegations-during-sudan-protests-2021-12-21/html.

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